Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
gefragt. Sie wollten ihn zur Flucht überreden, aber Schiron brach im Morgengrauen auf und machte sich auf den langen Weg zum Wall. Der Basilisk wachte eifersüchtig über den Jungen und kam jede Nacht zu ihm, um sich zu vergewissern, dass er sein Versprechen einhielt. Schiron jedoch wollte gar nicht fliehen. In weniger als einem Viertelmond hatte er Ka’aloo erreicht. Dort schien der Mond so hell wie heute Nacht, und ein Ghul mit Namen Asmara erwartete ihn bereits.«
»Asmara?«
»Der Albtraum jedes Kindes in der Wüste. Es hieß, seine Haut sei so weiß wie Milch, und in seinen Augen loderten rote Feuer. Er war der übelste aller Ghule, von krankhafter Lasterhaftigkeit und unersättlich in seiner Blutgier. Man munkelte auch, die Bosheit sei ihm angeboren. Da seine helle Haut die Berührung der Sonne nicht ertrug und auch seine Augen ihrem Licht nicht standhalten konnten, habe er schließlich gelernt, die Wüste zu hassen, und sich nur des Nachts hinausgewagt, um alle in Schrecken zu versetzen, die den Tag nicht scheuen mussten.«
»Und dieser Schiron … Hat Asmara ihn nach Tular mitgenommen?«
»Nein. Auf dem Hauptplatz von Ka’aloo, neben dem Teich der Oase, weigerte sich Schiron, dem Herrn von Tular zu folgen. Er spuckte Asmara vor die Füße und erklärte ihm, von diesem Tag an sei die Herrschaft der Ghule zu Ende, er würde sie alle töten mit seinem eigenen Blut.«
»Und was geschah dann?«
Kesla hatte über den See gestarrt, nun wandte sie sich wieder Joach zu. »Hier weichen die Texte voneinander ab. Einige behaupten, Asmara hätte einen Dolch gezückt und Schiron angegriffen, während andere sagen, Schiron hätte ein Magik Schwert aus dem Sand gezogen und es dem Ghul in den Leib gestoßen, ohne ihn jedoch zu töten. Wie auch immer, es kam zu einem erbitterten Kampf. Üble Magik erleuchtete den Nachthimmel. Die Bewohner von Ka’aloo ließen alle ihre Habe zurück und flüchteten in die Wüste. Der Kampf zwischen Schiron und Asmara tobte die ganze Nacht hindurch, und als die Sonne aufging und einige der Flüchtlinge zurückkehrten, fanden sie nur noch einen dampfenden See aus flüssigem Glas. Man nannte ihn Aii’schan ›die Tränen der Wüste‹. Es dauerte einen vollen Mond, bis er abkühlte.«
»Und was war aus Schiron und Asmara geworden?«
Kesla schüttelte den Kopf. »Sie waren beide verschwunden, vernichtet von ihrer eigenen Magik.«
Joach starrte auf den glatten schwarzen See hinaus. »Und Tular?«
»Sobald sich die Nachricht von Schirons Kampf verbreitet hatte, kam es abermals zu einem Aufstand. Diesmal erhoben sich nicht nur einige wenige Stämme wie bisher, diesmal beteiligte sich die ganze Wüste. Tular allerdings war zwar führerlos, aber nicht wehrlos. Der Basilisk und Scharen von anderen Bestien waren ja noch am Leben. Doch Asmara war der stärkste Ghul des Südwalls gewesen. Ohne ihn hatten die anderen dem Ansturm der Wüstenstämme wenig entgegenzusetzen. Es kam zur Belagerung, und die dauerte zwei volle Winter lang.« Kesla sah Joach an. »Und eines Tages kam eine Frau und riet den Handwerkern der Wüste, aus dem Glas des Sees einen Dolch zu formen.«
»Svesa’kofa?«
Sie nickte. »Die Hexe von Geist und Stein. Sie benetzte die Klinge mit ihrem eigenen Blut, und beim nächsten Vollmond begab sie sich nackt in die Festung und tötete den Basilisken. Mit dem Tod des Ungeheuers wendete sich das Glück. Weniger als einen Mond später war Tular gefallen, die Festung wurde geschleift, und alle ihre Bewohner wurden vertrieben. Von da an war Tular ein verwunschenes Gemäuer, das von allen gemieden wurde.«
Joach seufzte. »Und dann fing alles wieder von vorn an.«
Hinter ihnen rief Fess a’Kalar vom Steuer her: »Wir haben den Südwall fast erreicht! Haltet euch bereit!«
Joach und Kesla standen auf. Kesla kniff die Augen zusammen und sah, wo der glänzende Glassee endete und der Sand wieder anfing. Dahinter war der Horizont nicht mehr so sanft gerundet wie bisher, sondern eine unerbittlich gerade Linie durchschnitt den Sternenhimmel. Kesla erkannte den mächtigen schwarzen Umriss des Südwalls.
Ringsum verfiel alles in hektische Betriebsamkeit. Die Besatzung des Gleitbootes bereitete sich zum Anlegen vor. Kesla konnte den Blick nicht vom Wall lösen. Für einen Moment legte sich ein zweites, gespenstisches Bild über die Szene: Zelte und Bäume im Mondlicht und ein mitternachtsblauer Teich.
»Ka’aloo«, murmelte sie.
»Was war das?« fragte Joach.
Das Bild verschwand.
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