Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
und hob die Laterne.
»Ja, aber man spürt deutlich, dass der Winter naht.«
»Noch können wir wieder hinuntergehen«, sagte Er’ril. »Das Buch kann überall geöffnet werden.«
Elena schüttelte den Kopf und trat an die steinerne Brüstung. Die Scheibe des Mondes war nun vollständig aus dem Meer gestiegen. »Nein. Ich möchte, dass es hier geschieht, im Angesicht des Mondes.« Sie hielt das Buch in die Höhe. Die Rose auf dem Einband strahlte hell.
Er’ril und Mama Freda traten zurück und machten ihr Platz.
Gerade als sie nach dem Einband greifen wollte, zerriss das Trompeten eines Drachen die nächtliche Stille. Elena beugte sich schützend über das Buch, obwohl sie die Stimme sofort erkannt hatte. Es war Ragnar’k.
Elena richtete sich auf. Auch die beiden anderen traten an die Brüstung. »Es muss etwas passiert sein«, sagte Er’ril und schaute über die Stadt A’loatal hinweg.
Eine schwarze Gestalt schwebte vor der silbernen Scheibe des Mondes vorbei und kam, fast die Turmspitzen streifend, geradewegs auf sie zu. Mama Freda streckte die Hand mit der Laterne weit nach oben, und Tikal plapperte: »Großer Vogel. Großer, großer Vogel.«
Der Drache glitt so zielstrebig über die tausend Türme der alten Stadt hinweg wie ein Falter auf dem Weg ins Licht. Als er nahe genug war, neigte er sich auf eine Seite und umkreiste den Turm.
Von seinem Rücken ließ sich eine zarte Stimme vernehmen, aber der Wind trug die Worte davon. Er’ril trat zurück und bedeutete Ragnar’k zu landen.
Mit lautem Gebrüll schoss der Drache auf die andere Dachseite zu und setzte mit rauschenden Schwingen auf der Brüstung auf. Seine Silberklauen gruben sich in den Stein und gaben ihm Halt. Kalt funkelnd richteten sich die schwarzen Augen im Schein des Mondes und der Sterne auf die Versammelten.
Das Riesentier trug zwei Reiter auf seinem Rücken. Erst jetzt erkannte Elena Merik und Saag wan.
Der Elv’en Prinz glitt vom Drachenrücken und stand für einen Moment schwankend auf der Brüstung, dann hatte er das Gleichgewicht gefunden. Er schien gar nicht wahrzunehmen, wie weit es hinter ihm in die Tiefe ging. Höhenangst war dem Sohn der Windes und der Lüfte fremd. Merik sprang von der Brüstung und ging auf die Wartenden zu. Vor Elena kniete er nieder und senkte den Kopf. »Prinzessin«, sagte er atemlos.
Elena schoss trotz der Kälte das Blut in die Wangen. »Steh auf, Merik. Und lass bitte diesen Unsinn. Was gibt es so Dringendes?« Elena wies mit dem Kopf zu Saag wan und dem Drachen hin.
Hinter Merik war auch Saag wan über Ragnar’ks Hals zu Boden gerutscht. Die Mer’ai tätschelte dem riesigen Tier die Schnauze, legte die Stirn an seine Schuppen und hielt unverkennbar stumme Zwiesprache mit ihm. Elena sah, wie sie traurig lächelte, bevor sie die Hand wegnahm.
Wieder wirbelten Schuppen, Knochen und Schwingen wild durcheinander, dann stand ein nackter Mann auf der Brüstung. Kast. Elena wandte den Blick ab, als Saag wan ihm herunterhalf und ihm ein Bündel Kleider reichte.
Merik war inzwischen wieder zu Atem gekommen. Immer noch auf den Knien liegend, nahm er einen Beutel von seiner Schulter, öffnete ihn und zog eine Laute heraus. Der Schein der Sterne brachte das polierte Holz mit seinen satten Braun und Goldtönen förmlich zum Leuchten. Elena kannte das Instrument. Bei seinem Anblick fuhr ihr ein Stich durchs Herz.
Es war Ni’lahns Laute.
»Was ist geschehen, Elv’e?« fragte Er’ril schroff.
Merik stand endlich auf. Für Er’ril hatte er nur einen finsteren Blick. »Ich habe Neuigkeiten«, wandte er sich an Elena. »Eine Botschaft von … von … oh süße Mutter, es klingt einfach zu verrückt.«
Elena strich ihm über die Hand. »Von wem?«
Der Elv’e sah sie mit seinen strahlend blauen Augen an. »Von Ni’lahn.«
Elena blieb vor Schreck die Luft weg. Ihre Hand sank herab.
»Das ist unmöglich«, sagte Er’ril.
»Meint ihr, das wüsste ich nicht?« Merik schaute von einem zum anderen.
Unterdessen waren auch Saag wan und Kast näher getreten. Der Blutreiter sagte bedächtig mit seiner rauen Stimme: »Der Elv’e lügt nicht. Wir haben es alle gehört: Eine Stimme sprach aus dem Saitenspiel.«
»Was redet ihr da?« fragte Er’ril mit tief gerunzelter Stirn.
Merik berichtete, was sich auf der Bleicher Hengst zugetragen hatte. »Ich weiß, dass es ihre Stimme war«, schloss er. »Sie verlangt, dass ich die Laute in die Westlichen Marken bringe. Irgendetwas bedroht dort den
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