Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
den Obsthainen zurückkehrte. Sie ließ die Augen fest geschlossen. Wie gern wäre sie in diesem Traum geblieben, anstatt sich wieder hineinzubegeben in diese Welt, in der sich Blutmagik und Dämonenscharen bekämpften.
Nun kamen die Stimmen näher, und Elena zwang sich, die Augen zu öffnen. Im Schlafraum war es dunkel, er hatte keine Fenster, und so wusste sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Aber wenn Er’ril hier war, musste der Mond schon aufgegangen sein. Er war sicher gekommen, um sie zu wecken.
Plötzlich fuhr sie hoch. Es war doch nicht völlig dunkel. In einer Ecke ruhte auf einem Ständer aus silbrig glänzendem Marmor ein zerlesenes schwarzes Buch, dessen Einband eine goldgefasste burgunderrote Rose zierte.
Das Buch des Blutes. Elenas Talisman … Erbe und Last zugleich.
Jetzt erstrahlte die rot goldene Rose auf dem Buch in einem weichen azurblauen Licht, das an den Schein des Mondes erinnerte. Der Mond rief nach dem Buch. Wenn er zum Zenit emporstieg, würde sich das Leuchten verstärken. Und sobald das Buch wie in innerem Feuer erglühte, konnte man es öffnen und einmal mehr die Brücke zu den Sternen schlagen.
Sie hörte, wie leise an ihre Tür geklopft wurde. Die anderen kamen. Elena richtete sich auf. »Herein«, rief sie.
Die Tür ging auf. Mama Freda steckte den Kopf herein.
»Hast du gut geschlafen?« fragte sie. »Ja, danke.«
»Schön, schön.« Mama Freda stieß die Tür vollends auf. Sie hielt eine lange, dünne Kerze in der Hand und ging damit zum Nachttisch, um dort die Laterne anzuzünden. Hinter ihr betrat Er’ril den Raum.
Elena bemerkte, wie der Präriemann sein rechtes Bein schonte und wie er die Augen zusammenkniff, sobald er das Gewicht auf dieses Bein verlagerte. Er verbarg es gut, aber die Dolchwunde bereitete ihm immer noch Schmerzen. Als er näher kam, sah sie, dass er das Festgewand, das er zum Bankett im Großen Saal getragen hatte, gegen die vertraute standische Reitkleidung eingetauscht hatte: schwarze Stiefel, abgetragene braune Hosen und ein grünes Lederwams über einem Hemd aus grobem sandfarbenem Leinen. Sogar das rabenschwarze Haar hatte er mit einem roten Lederstreifen zurückgebunden.
Beim Anblick der gewohnten Tracht wurde Elena leichter ums Herz. Das war der Er’ril, den sie kannte und dem sie vertraute.
Elena warf die Decke zurück. Sie war noch im Nachthemd. Als sie aus dem Bett glitt, flammte die Laterne auf. Elena warf einen kurzen Blick in den Spiegel über der Waschschüssel und bekam wieder einmal einen Schreck. Wer war die fremde Frau? Sie betastete ihr Gesicht. Das Haar fiel ihr in weichen, feuerroten Locken bis auf die Schultern. Die grünen Augen waren noch die gleichen wie früher, doch im Schein der Laterne sah man die goldenen Sprenkel darin. Auf der Meereswind hatte ihr ein Zauberbann vier Winter geraubt und sie vorzeitig reifen lassen. Ihre Hand glitt weiter über die Rundungen ihres neuen Körpers. Sie hatte sich inzwischen an ihre Weiblichkeit gewöhnt, doch in Augenblicken wie diesen wurde sie immer noch davon überrascht.
»Der Mond ist fast ganz aufgegangen«, sagte Er’ril. »Wir sollten uns bereit machen.«
Sie nickte. »Ich dachte, wir gehen hinaus auf den Turm.« Sie warf sich rasch einen dicken Wollmantel über ihr Nachthemd, gürtete ihn mit einer Schärpe und fuhr mit den Füßen in warme Pantoffeln.
Dann trat sie an den Ständer und griff nach dem Buch des Blutes. Der Schein der Rose war in der kurzen Zeit merklich heller geworden. Sie zögerte einen Atemzug lang, bevor sie das Buch berührte. Diese Nacht würde alles verändern. Sie konnte beinahe spüren, wie unter ihr Welten in Bewegung gerieten. Aber es gab kein Zurück mehr. Mit einem tiefen Seufzer nahm sie das Buch in ihre beiden rubinroten Hände, hob es vom Ständer und drehte sich um. »Ich bin bereit.«
»Dann lass uns gehen.« Er’ril verließ als Erster das Schlafgemach, trat im Wohnraum an eine Wand und zog einen Teppich zur Seite. Eine Geheimtür wurde sichtbar. Dahinter führte eine kurze Treppe nach oben. Elena stieg zwischen Er’ril und Mama Freda die Stufen hinauf. Bald strich ihr vom offenen Dach her der erste kalte Luftzug über das Gesicht. Als sie ins Freie traten, riss der Wind an ihrem Mantel. Sie zog die Schärpe fester und drückte das Buch an die Brust.
Hinter ihr quiekte Mama Fredas Tamrink empört auf, als er die Kälte spürte, und schmiegte sich fester an die alte Heilerin. »Ist dir auch warm genug, Kind?« fragte Mama Freda
Weitere Kostenlose Bücher