Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Wehrtor getragen wurde. Aber die Bewegung erschien ihr unnatürlich, so schwer zu fassen und so rasch vergessen wie ein Traum nach dem Erwachen. Energien von unergründlicher Stärke durchwogten sie. Der Gesang, das Heulen und Schreien der Hexe durchdrangen jede Faser ihres Körpers. Ein Chor schrankenloser Macht und ungezügelter Leidenschaften.
Sie fühlte sich hin und her geschleudert wie ein Sandkorn im Sturm und versuchte sich zu sammeln. Ich darf mich nicht verlieren. Sie zwang sich, den verzweifelten Widerstand gegen die Kräfte einzustellen, die in ihrem Inneren tobten und sie zu zerreißen drohten. Stattdessen nutzte sie den Strudel der fremden Energien, um sich tief in sich selbst zurückzuziehen und ihr Ich zu einer kleinen Flamme von intensiver Leuchtkraft zu verdichten. Ein Signalfeuer im Dunkel des Sturms.
Sobald sie sich ein wenig erholt hatte, schickte sie ihre Sinne langsam aus. Diesmal folgte sie den Kraftströmen, statt gegen sie anzukämpfen. Als Erstes spürte sie ihren eigenen Herzschlag. Das langsame, regelmäßige Pochen beruhigte sie. Sie war noch am Leben.
Nun folgte sie ihrem Blut auf seinem Weg durch den Körper. Dabei bekam sie wieder ein Gespür für ihre Gliedmaßen: Knochen, Muskeln, Sehnen. Sie baute sich sozusagen von innen heraus neu auf, bezog Chos Macht in jedes Element mit ein und fand sich auf diese Weise wieder. Das irre Lied der Hexe wurde leiser.
Elena lauschte nun auf ihre Umgebung. Eine große Stille hüllte sie ein, die weniger durch das Fehlen von Geräuschen bestimmt war als durch einen beängstigenden Druck es war, als tauchte man in einem See. Sie spürte nur diesen Druck und die Stille.
Doch sie wusste, dass sie nicht in einem Bergsee war.
Sie war im Wehr.
Elena schwebte durch diese fremde Welt und hielt die Augen geschlossen, um nicht sehen zu müssen, wovor sie Angst hatte. Cho, was hast du getan?
Zaghaft setzte sie ihre anderen Sinne ein, aber sie konnte nichts riechen, und die Luft hatte keinen Geschmack. Die einzige Wahrnehmung war ein brennendes Kribbeln, das ihren ganzen Körper überzog. Als sie ihren Armen befahl, sich zu bewegen, stellte sie erstaunt fest, dass ihre Gliedmaßen ihr wieder gehorchten. Sie breitete die Arme aus und suchte nach einem festen Halt. Dabei wurde das Brennen von den Händen bis zu den Schultern so stark, dass es beinahe schmerzte.
Elena drängte ihre Angst zurück und wagte es, die Augen zu öffnen. Zum ersten Mal erblickte sie das Innere des Wehrs.
Sie war von dichter, brodelnder Schwärze umgeben, als schwämme sie in einem nächtlichen Meer. Wo diese Dunkelheit sie berührte, erglühte ihre rubinrote Haut. Ihre ganze Gestalt leuchtete wie ein winziges rotes Flämmchen durch das Dunkel.
Nun bewegte sie die Arme bewusst durch die meeresgleiche Finsternis und beobachtete sich dabei selbst. Da ihre Haut erneut aufstrahlte, dachte sie: »Chos Magik beschützt mich, sie umgibt mich mit einem rubinroten Harnisch, dem die Berührung des Wehrs nichts anhaben kann.«
In diesem Bewusstsein sah sie sich um. Als sie sich drehte, nahm sie eine fremde Bewegung wahr. Mit einem Beinschlag schwamm sie vorsichtig näher. Die Finsternis lichtete sich und gab den Blick auf eine überraschende Szene frei: Er’ril und die anderen standen nur ein kurzes Stück entfernt und starrten sie an, während sie wie durch dunkles Glas zu ihnen hinausschaute. Sie schwamm auf sie zu und streckte ihnen die Hände entgegen. Ihre Finger stießen gegen eine Art Wand. Sie drückte dagegen, aber die Gruppe nahm sie nicht wahr.
Gedämpfte Worte drangen zu ihr. »Woher wissen wir, dass sie noch lebt?« fragte Er’ril.
Tante Filas Geistergestalt stand hinter ihm. »Weil ich noch hier bin. Wenn Elena stirbt, stirbt auch die Magik des Buches. Ich wäre nicht mehr da, wenn die Verbindung durchtrennt wäre.«
Er’ril warf einen Blick zum Himmel. »Der Mond geht bald unter. Was dann?«
Fila schüttelte nur den Kopf.
Elena schlug gegen die Wand, aber es nutzte nichts. Sie war im Wehrtor gefangen. »Er’ril!«
Niemand hörte sie.
Sie schrie lauter. »Er’ril!«
Tol’chuk drehte den Kopf in ihre Richtung. Er war dem Stein am nächsten.
»Tol’chuk! Kannst du mich hören?«
Er beugte sich vor und legte eine Hand auf den Schwarzsteinblock. »Elena?«
»Ja!« Sie weinte fast vor Erleichterung.
Der Og’er blickte über die Schulter und brüllte: »Sie ist es!
Elena!« Er’ril eilte an seine Seite und drückte die Hände gegen den
Stein, um einen
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