Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
tun haben«, murmelte sie.
Er’ril trat zu ihr. Sie sah ihm in die Augen und fühlte, wie die Blicke der anderen auf ihr ruhten. Aber das war nichts, verglichen mit den Schicksalsströmen, die das Buch in ihrer Hand erschütterten.
»Die beiden Ziele sind tatsächlich eins geworden. Wenn wir den Herrn der Dunklen Mächte besiegen wollen, muss Chi gerettet werden.«
»Aber wie sollen wir das erreichen, Elena?« fragte Er’ril.
»Indem wir tun, was Ni’lahn von uns verlangt«, antwortete sie und wandte sich dem Mond zu. »Wir suchen die verfluchten Tore und zerstören sie.« Sie drehte den Kopf und sah Er’ril an. »Alle.«
Die Vermummte kauerte reglos im dunklen Burghof. Mit ihrer schlanken Gestalt war sie nur einer von vielen Schatten zwischen Trümmerhaufen und verbogenen Eisenträgern. Schon seit Mitternacht wartete sie hier und beobachtete den Lichterzauber auf dem Turm der Hexe. Sie hatte den Drachen auf der steinernen Brüstung landen und gleich darauf verschwinden sehen. Doch sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Auch als der mondhelle Schein auf der Turmspitze verblasste, hatte sie weiter in ihrem Versteck ausgeharrt. Ihre Meister hatten sie Geduld gelehrt. Wer in der Kunst des Tötens ausgebildet war, der wusste, dass der Sieg in der Stille zwischen den Schlachten errungen wurde. So war die ganze Nacht vergangen.
Allmählich sammelte sich der Morgentau in dicken Tropfen in den Falten ihres mitternachtsgrünen Umhangs. Eine Grille kroch über die Hand, mit der sie sich auf die Erde stützte, aber sie ließ die Zinnen der Burg nicht aus den Augen. Sie spürte, wie das kleine Insekt die Hinterbeine aneinander rieb, und hörte sein leises Zirpen. Ein erstes Zeichen, dass der Tag anbrach. Es war so weit. Sie richtete sich so mühelos auf, als hätte sie nur kurz innegehalten, um im frisch bepflanzten Garten eine Blume zu pflücken. Die Bewegung war so rasch und fließend, dass die Grille auf ihrem Handrücken sitzen blieb.
Die Frau hob die Hand an die Lippen und blies das überraschte Insekt kurzerhand herunter. Wenn nur ihr neuestes Opfer ebenso ahnungslos wäre.
Ohne Zögern verließ sie den Schlupfwinkel zwischen den Trümmern und huschte über den Hof. Sie hinterließ keine Spuren. Sie hatte gelernt, durch die Wüste zu laufen, ohne dabei ein einziges Sandkorn zu bewegen. Die großen Tore zum Hauptgebäude waren bewacht. Durch die Buntglasfenster konnte sie die Wächter von hinten sehen. Aber Türen waren nur für geladene Gäste bestimmt.
Im Laufen schleuderte sie mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk ein dünnes Seil zu einem der vergitterten Fenster im dritten Stock. An seinem Ende waren drei Dreizack Haken befestigt, die sich um die Gitterstäbe legten. Ohne innezuhalten, straffte sie das Seil mit einem kräftigen Ruck. Es war aus geflochtener Spinnenseide gedreht und würde ihr Gewicht leicht aushalten. Leichtfüßig flog sie auf die Wand zu und huschte daran hinauf. Niemand hätte geahnt, dass sie dazu ein Seil verwendete.
Ohne einen Schweißtropfen zu vergießen, erreichte sie das Fenster, zog eine Phiole mit Schwarzfeuer aus der Tasche und strich das Öl oben und unten auf drei Stäbe. Für einen Moment stieg ihr der Gestank nach verbranntem Eisen in die Nase, aber Schwarzfeueröl arbeitete ohne Flammen. Nichts darf den Blick auf sich ziehen! eine der ersten Lektionen, die man den Lehrlingen beibrachte.
Sie zählte lautlos bis zehn, dann packte sie die Stäbe und riss sie heraus. Das Schwarzfeueröl hatte sie völlig durchgefressen. Die Teile legte sie vorsichtig auf das Granitfensterbrett. Sie einfach fallen zu lassen wäre zu gefährlich gewesen. Womöglich hätte jemand das Klirren gehört.
Sie streckte die Hand durch die entstandene Öffnung und bewegte kurz das Handgelenk. Eine Stahlklinge glitt ihr zwischen die Finger, die schob sie zwischen die beiden Fensterflügel und hob den Riegel an. Dann drückte sie vorsichtig gegen die Scheiben. Am Knarren der alten Angeln hörte sie, dass das Fenster seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet worden war. Selbst dieses winzige Geräusch war ihr unangenehm. Sie zog ein Fläschchen aus einer Tasche und ölte sämtliche Scharniere.
Erst dann stieß sie das Fenster einen Finger breit auf, hielt die blanke Klinge hinein und benutzte sie als Spiegel, um in den Korridor zu schauen. Leer. Ohne noch länger zu zögern, zwängte sie sich durch die schmale Öffnung und ließ sich zu Boden fallen. Binnen eines Herzschlags war sie wieder
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