Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
auf den Beinen und duckte sich in die Schatten.
Aber sie hielt nicht an. Sie rannte den Korridor entlang und zwei Treppen hinunter, ohne im Staub einen einzigen Fußabdruck zu hinterlassen. Wenig später hatte sie ihr Ziel erreicht die Türen zum Großen Saal. Sie kauerte sich davor nieder und ließ ihre Werkzeuge tanzen. Im nächsten Augenblick war das Schloss offen. Sie zog nur eine Tür so weit auf, dass sie ihre schmale Gestalt über die Schwelle zwängen konnte. Wenigstens waren hier die Angeln gut geölt und quietschten nicht.
Drinnen eilte sie sofort an den langen Eisenholztisch. An seiner Kopfseite stand auf einem Podest ein Thronsessel. Die Schnitzereien auf der hohen Lehne stellten verschlungene Rosenzweige dar. Als sie näher trat, beschlich sie ein leises Unbehagen. Das war der Platz, wo sonst die Hexe saß. Ihre Schritte wurden langsamer, doch sie zwang sich, den ganzen Tisch entlangzugehen, bis sie vor dem Thron stand. Sie glaubte fast, den Blick der Hexe zu spüren, und obwohl sie wusste, dass das Unsinn war, überlief sie ein Schauer.
Leicht gebückt schlich sie an die Schmalseite des Tisches und blieb, mit dem Rücken zu dem hohen Sessel, davor stehen. Dann griff sie unter ihren Umhang und zog die Waffe. Im Halbdunkel des Saales schien die schwarze Klinge förmlich zu glühen. Ihre Hand zitterte ein wenig. »Zwinge mich nicht, es zu tun«, flüsterte sie ins Leere hinein.
Aber es gab kein Zurück. Sie war von zu weit hergekommen, hatte zu viel zurückgelassen. Die schändliche Tat musste vollbracht werden. Es war die letzte Hoffnung.
Sie nahm den langen schwarzen Dolch in beide Hände, streckte die Arme nach oben und schickte ein kurzes Gebet um Vergebung zum Himmel. Dann stieß sie die Klinge in die Tischplatte. Die scharfe Spitze glitt durch das Eisenholz wie durch Butter. Doch als der Griff auf den Tisch traf, durchzuckte ein heftiger Schlag ihre Hände. Schwer atmend ließ sie ihn los und wischte sich die Finger an ihrem Umhang ab, als könnte sie das Gefühl damit loswerden.
Sie starrte die Klinge an. Der Dolch steckte mitten in dem Abdruck, der von der Hand der Hexe in die Platte gebrannt war.
Und dann quoll vor ihren Augen rotes Blut aus dem Holz, sammelte sich in einer Pfütze auf dem Tisch und tropfte in dünnen Rinnsalen auf den Steinboden. Doch das war nicht das Schlimmste. Während sie noch dastand wie angewurzelt, löste sich aus der Blutlache ein leiser Schrei, ein Schrei voller Schrecken und Schmerz.
Die Vermummte fasste sich mit der Hand an die Kehle und wich zurück. Was habe ich getan?
Sie machte hastig kehrt, flüchtete durch die Tür und verlor sich im Labyrinth der Gänge. Doch der Aufschrei der verletzten Hexe verfolgte sie bis in die Schatten. Oh ihr Götter, vergebt mir!
3
Elena warf sich hin und her und drückte die Hand an die Brust. Die Laken waren zerwühlt. Ihre Handfläche fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Der Schmerz umfing sie wie ein roter Nebel. Sie hörte undeutlich, wie jemand laut an ihre Zimmertür hämmerte.
»Elena!« Das war Er’rils Stimme.
Sein Aufschrei gab ihr etwas, woran sie sich festhalten konnte. Sie befreite die Hand aus den Laken und betrachtete sie im Halbdunkel vor Tagesanbruch. Wider Erwarten sah sie keine Wunde, kein Blut. Der Schmerz ließ langsam nach. Elena wälzte sich aus dem Bett und wankte zur Tür.
Das Hämmern hörte nicht auf. Ein Brett zeigte bereits Sprünge, doch Er’ril ließ nicht locker. »Elena! Antworte doch!«
Mit zitternden Fingern schob sie den Riegel zurück und öffnete die Tür. Er’ril stand mit rotem Gesicht und zerzaustem Haar vor ihr. Hinter ihm lag seine Decke achtlos hingeworfen auf dem Lehnstuhl vor dem Feuer. Die Gespräche über Chi und die Wehrtore hatten sich bis weit nach Mitternacht hingezogen, und irgendwann war der Präriemann vor dem Kamin eingeschlafen. Mama Freda hatte Elena geraten, ihn nicht zu wecken. Nun hielt er sein Schwert in der Hand und fragte verstört: »Bist du verletzt?«
Inzwischen spürte Elena nur noch ein dumpfes Pochen in der Hand und konnte endlich wieder klar denken. »Mir ist nichts geschehen«, sagte sie, aber ihre schwankende Stimme verriet, wie erschüttert sie war.
»Was war denn los?« fragte Er’ril. Sein Blick wanderte von ihren Füßen nach oben.
Elena fiel ein, dass sie nur ein langes Leinenhemd trug. Verlegen trat sie zurück, ging an ihren Schrank und zog sich den Wollmantel über. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich bin aufgewacht, weil
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