Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Furchthöhen. Sie kannte diesen schwarzen Gesang.
»Nein«, murmelte sie. »Ich will das nicht hören. Und wenn es mich das Leben kostet.« Denn dieser Weg führte in den Wahnsinn, in das Reich der abartigen Begierden.
»Was war das?« fragte Mogwied.
Ni’lahn schüttelte den Kopf. »Manchmal hat selbst das Leben einen zu hohen Preis.«
Mogwied runzelte sichtlich verwirrt die Stirn und rückte ein Stück von ihr ab. »Gib nicht auf. Meister Tyrus hat versprochen, uns zu helfen.«
Ni’lahn sank noch mehr in sich zusammen. Hoffentlich hatte Mogwied Recht. Und hoffentlich beeilte sich der Prinz. Dann lauschte sie weiter dem leisen Flüstern des Waldliedes: eine helle und eine dunkle Weise. Zwei Seiten derselben Münze.
Sie schloss die Augen. Ihr liefen die Tränen über die Wangen. Lok’ai’hera. Erinnerungen an lebendiges Grün und bunte Blumen. Alles dahin. Ni’lahn krümmte sich wie unter einem Schlag und verschloss die Ohren vor dem Dunkelgesang.
Mach schneller, Prinz …
Der Prinz von Burg Mryl hatte in seinem kurzen Leben schon viele Namen getragen. Seine längst verstorbene Mutter hatte ihn nach seinem Urgroßvater Tylamon Royson genannt. Für die Piraten von Port Raul war er König Tyrus gewesen, ihr Anführer und ein blutiger Tyrann. Seine erste Liebe in seinem dreizehnten Winter hatte ihn zum Schatz erklärt und ihn für zärtlich und gutherzig gehalten, während die letzte Frau in seinem Leben ihn als Bastard verflucht und geschworen hatte, ihm wegen seiner Herzenskälte die Eingeweide aus dem Leib zu reißen. Tatsächlich vereinigte der Prinz alle diese Männer in sich, er war die Summe seines bisherigen Lebens. Niemand hatte nur einen einzigen Namen.
Doch während Tyrus jetzt durch den Stein des Walls schwamm, schüttelte er die Irrungen und Wirrungen seiner Vergangenheit ab und wurde zu einem einzigen Mann mit einem Willen aus Granit. Dies war sein rechtmäßiges Erbe, seine Heimat und er wollte sie zurückhaben und ihre Toten rächen.
Tyrus glitt so mühelos durch das Gestein wie ein Fisch durch das Wasser. Er spürte Strömungen im Fels, Wirbel und Strudel, die Bewegungen des Magik Flusses im Granit. Von einem Energiequell ließ er sich nach oben tragen. Auf den schwindelnden Höhen des großen Walls angekommen, sah er sich um. Sein Blick durchdrang das Granitwasser und ging hinaus in die Welt. Die Westlichen Marken und das Feldlager der Zwerge präsentierten sich flimmernd seinem Auge, und wenn er den Kopf drehte, sah er die wabernde Finsternis der Furchthöhen.
Doch sein Ziel lag weder rechts noch links. Er musste weiter hinauf, dorthin, wo der Hauptturm der Burg aus dem Granitwall herauswuchs. Er schwamm auf die oberen Terrassen zu. Dort lagen die Gemächer, die einst sein Vater, König Ry, bewohnt hatte. Wer immer über diese Zwerge herrschte, so dachte er, müsste wohl hier zu finden sein und hier sollte er auch Antworten auf seine Fragen erhalten.
Als Tyrus die erforderliche Höhe erreicht hatte, schlängelte er sich durch die Pfeiler und Wände dieses Teils der Burg. Hier war der Granit nicht mehr ganz so dick, und so wurden, ähnlich wie für einen Taucher, der aus den Tiefen eines dunklen Sees an die Oberfläche steigt, die Bilder schärfer. Da die Mauern dünner waren, musste er darauf achten, in ihrem Inneren zu bleiben. Sollte irgendjemand einen Arm oder ein Bein aus der Wand ragen sehen, wäre es mit dem Spionieren vorbei. Behutsam glitt er einen langen Gang entlang und erreichte endlich die richtige Tür. Er wurde langsamer, kam sachte zum Stehen, bog vom Korridor ab und spähte in den nächsten Raum.
Das königliche Vorzimmer war eine ovale Blase im Granit, von der aus mehrere Gänge in die königlichen Privatgemächer führten. Der wichtigste Raum hier war der Audienz und Konferenzsaal von Tyrus’ Vater gewesen. Bücherregale säumten die Wände, und auf der rechten Seite gähnte, unbenutzt und längst erkaltet, ein offener Kamin. Auf dem Granitboden lag ein dicker Wollteppich, bestickt mit dem Familienwappen, dem Schneeleoparden.
Tyrus runzelte die Stirn. Der Raum war leer und bis auf eine einzige Fackel auch dunkel.
Während er noch enttäuscht im Inneren des Steins verharrte, hörte er aus den Tiefen der Gemächer eine scharfe Stimme.
Um ihr nachzugehen, trat Tyrus aus der Steinmauer. Die Magik begleitete ihn. Er ließ seine schwarzen Gliedmaßen aus der Wand sprießen, bis er frei war, dann eilte er über den Teppich ans andere Ende des Raumes, tauchte wieder in
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