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Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung

Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung

Titel: Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clemens
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zur Oberkante des Nordwalls, auf den höchsten Zweigen saßen Eiskronen. Die Stämme hatten den Umfang von Bauernhäusern und erhoben sich aus einem unübersehbaren Gewirr von knorrigen Wurzeln. Doch das Schlimmste war, dass die Äste nicht gerade nach außen ragten, sondern sich krümmten und einrollten wie Ranken. Durch die fehlenden Blätter wurde dieser Eindruck noch verstärkt. Der ganze Wald bestand aus nackten Gerippen ohne ein einziges Fleckchen Grün.
    Merik zitterte am ganzen Körper. Diese Baumgiganten erschienen ihm wie die bildliche Darstellung des Wortes › gefoltert‹.
    Nur mit Mühe riss er sich von dem Anblick los und schaute in die Tiefe. Dort grub sich ein Wurzelgewirr langsam vom Wald her in die Bresche hinein. Merik war klar, dass jede einzelne der Wurzeln, wenn man sie aus dieser Höhe sehen konnte, dicker sein musste als eine Pferdeflanke und stark genug, um sich in den Fels zu fressen. Darin lag die Ursache für die Zerstörung des Walls. Wie am Steinkogel mussten die Grim ihre versklavten Bäume hierher gelenkt und sie gezwungen haben, die Bresche in den Granit zu reißen.
    Aber wozu? Inwieweit wurden diese Geister vom Herrn der Dunklen Mächte beherrscht? Was hatte sie veranlasst, nach so langer Zeit ihr Gebiet und ihre Bäume zu verlassen, um die Westlichen Marken unsicher zu machen?
    Merik hatte im Lauf der letzten beiden Tage einiges über das Verhalten der Blutgespenster erfahren. Die Grim strömten nur bei Nacht aus den Furchthöhen, um durch die Wälder der Marken zu streifen, eine Barriere des Grauens um Burg Mryl zu legen und die Zwerge in ihrem Lager zu beschützen. Nur – warum ? Durch welchen Schreckenspakt waren die blindwütigen Geister und die heimtückischen Zwerge miteinander verbunden?
    Merik wusste es nicht. Er wendete die Sturmschwinge. Die Tränen gefroren ihm auf den Wangen. So vieles war unbekannt, doch eine Wahrheit, ein Geheimnis lag für Merik offen zutage. Aber er hatte es bisher niemandem mitgeteilt, nicht einmal seinen eigenen Leuten.
    Er wandte den Furchthöhen den Rücken zu. »O Ni’lahn … vielleicht wäre es besser, du wärst tot geblieben.«
    »Du siehst nicht gut aus«, sagte Mogwied.
    Ni’lahn schlug die Augen auf. Sie lehnte, in ihren Umhang gewickelt, an der kalten Zellenwand. Mogwied kauerte vor ihr. »Mir fehlt nichts«, log sie, wandte sich ab und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht.
    Der Mann mit dem mausgrauen Haar setzte sich neben sie und zupfte eine lange, blonde Strähne von der Schulter ihres Umhangs. »Was ist los mit dir?«
    Ni’lahn schwieg. So sehr sie es auch zu verbergen suchte, dieses steinerne Grab gefährdete ihre Wiedergeburt. In den Weiten der Westlichen Marken hatte ihr das Lied des Waldes Kraft gegeben, doch hier, gefangen hinter vielen Spannen harten Granits, war sie davon abgeschnitten. Vom ewigen Gesang des großen Waldes drang kaum noch ein Flüstern zu ihr.
    »Du brauchst deine Laute, nicht wahr?« flüsterte Mogwied. Ihm war nichts entgangen. »Eine Nyphai darf sich nicht zu weit von dem Baumgeist entfernen, dem sie verbunden ist.«
    »Nicht mehr als hundert Schritte«, antwortete sie leise. Als vor vielen Jahren der letzte Koa’kona Baum in Lok’ai’hera, dem Hain ihrer Vorfahren, der Fäule zum Opfer gefallen war, hatte ein geschickter Holzschnitzer für Ni’lahn eine prächtige Laute aus dem Herzen ihres Koa’konas gefertigt und damit den Geist des Baumes befreit und am Leben erhalten. Mit der Laute in der Hand hatte Ni’lahn durch ganz Alasea wandern und nach einem Weg suchen können, dem von der Fäule zerstörten Wald neues Leben einzuhauchen.
    Aber das war vorbei. Sie hatte ihre Laute nicht mehr, und deshalb brauchte sie die Kraft der riesigen Wälder der Marken, um sich zusammenzuhalten. Seit Ni’lahn in diesem Granitverlies von ihrem Wald getrennt war, wurde sie zusehends schwächer und begann sich aufzulösen. Ihre Lippen waren trocken und rissig, und ihr Durst war nicht zu stillen, so viel sie auch trank. Das Haar hing ihr matt und strähnig über die Schultern, und ganze Büschel fielen aus wie welkes Herbstlaub.
    »Wie lange kannst du noch durchhalten?« fragte Mogwied besorgt.
    »Nicht mehr lange. Einen Tag vielleicht.« Ni’lahn schloss die Augen und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die Spuren des Liedes, die durch die Gänge und über die Treppen zu ihr drangen. Doch mit ihm vernahm sie auch ein anderes Lied, eine finstere Weise, die nicht von vorn kam, sondern von hinter ihr, von den

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