Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
stieß jäh herab und steuerte in weitem Bogen das Schiff an. Merik trat zurück. Der Elv’e, durch Blutsbande mit allen Wesen der Lüfte verbunden, hatte den Vogel gleich erkannt: ein großer Roch. Das schwarze Ungetüm fegte der Sturmschwinge geradewegs entgegen. Die Spannweite seiner Flügel war größer als Meriks Körperlänge. Mit einem durchdringenden Schrei legte es die Schwingen an und raste einem tödlichen schwarzen Pfeil gleich auf das Schiff zu.
Merik wich nicht zurück. Eine Handspanne über dem Deck entfaltete der Vogel seine Schwingen und fing den Sturz ab. Dann landete er und schlug seine Krallen in die Planken. Die Schwingen blieben gespreizt, auf seinem Kopf stellte sich eine Federkrone auf. Der Schnabel öffnete sich, als wäre der Vogel nach dem Flug außer Atem. Bernsteingelbe Augen glühten den Elv’en an.
Ferndal trat an den Vogel heran und beschnupperte ihn.
Merik fragte das majestätische Geschöpf: »Was hast du erfahren?«
Wie als Antwort schloss der Vogel die Schwingen, sträubte das Gefieder und schüttelte sich. Die schwarzen Schwungfedern zogen sich ins Fleisch zurück. Die Knochen wurden länger. Blondes Haar trat an die Stelle der schwarzen Federn, die Flügel verwandelten sich wieder in Arme. Augenblicke später hockte eine Frau auf den Planken. Das Einzige, was sie mit dem Vogel noch gemeinsam hatte, war das tiefe Bernsteingelb der Augen.
Mikela stand auf. Sie war nackt und immer noch ein wenig außer Atem. »S sie sind während der Nacht eingetroffen«, keuchte sie. »Man hat sie in die Verliese gebracht.«
Merik nahm seinen pelzgefütterten Umhang ab und legte ihn um ihre nackten Schultern. »Alle?«
Fröstelnd zog sie den Umgang fest um sich. »Alle. Aber Prinz Tyrus war offenbar nicht bei Bewusstsein. Kral musste ihn tragen. Das Ausmaß seiner Verletzungen konnte ich von da, wo ich saß, nicht erkennen.«
»Dann gehen wir vor wie geplant«, entschied Merik.
Sie nickte. »Heute Nacht. Im Schutz der Dunkelheit.«
»Wird ihnen bis dahin nichts zustoßen?«
»Wir wollen es hoffen. Wir haben nur eine Chance, wenn wir unbemerkt bleiben. Ohne Überraschung kein Sieg.«
Merik führte Mikela zur Luke. »Du brauchst jetzt Wärme und Ruhe. Der Winter naht, da sind die Tage kürzer.«
Mikelas Miene verdüsterte sich. »Nicht kurz genug.« Sie sah Ferndal fest an, ihre Augen glühten ein wenig heller. Die beiden tauschten unhörbar ihre Gedanken aus. Anschließend nickte der Wolf einmal mit dem Kopf und entfernte sich.
Merik folgte den beiden. Wenigstens war das Warten vorbei.
Die anderen verschwanden durch die Luke, Merik blieb an Deck und schloss die Klappe. Fröstelnd kehrte er an seinen Posten am Bugspriet zurück. Die dünne Luft war kalt, und Mikela hatte seinen Umhang behalten. Vor ihm lichtete sich der Hochnebel.
Eine Viertelmeile vor dem Bugspriet lag die schroffe Granitwand in Trümmern. Mikelas Rückkehr hatte den Elv’en abgelenkt, die Sturmschwinge war weiter abgedriftet, als ihm lieb war. Jetzt nahm er etwas Wind aus den Segeln. Zum ersten Mal näherte sich das Schiff der Stelle, wo der große Wall durchbrochen worden war. Das war Merik bisher zu gefährlich gewesen, doch jetzt, da die Bresche in Sicht war, zog sie ihn unwiderstehlich an. Felsblöcke so groß wie kleine Dörfer waren auf die Wiesen und in die Wälder der Westlichen Marken gestürzt. Die Schneise der Zerstörung reichte meilenweit nach Süden: tiefe Erdfurchen, Unmengen von umgestürzten Bäumen, abgerutschte Hänge. Ein Bild der Verwüstung, neben dem der katastrophale Einsturz des Steinkogels so harmlos erschien wie ein abgeknicktes Zweiglein.
Merik richtete den Blick wieder auf den Wall. Die Bresche reichte von der Oberkante bis zum Fuß des Nordwalls. Doch als das Schiff näher heranschwebte, sah Merik, dass sie im Verhältnis ziemlich schmal war, nicht mehr als hundert Schritt breit. Es war, als hätte jemand mit einer Riesenaxt die Wand gespalten.
Entsetzt und fasziniert zugleich flog Merik weiter. Als die Sturmschwinge über den Schauplatz der Katastrophe glitt, hielt er die Augen fest auf die Bresche gerichtet und wartete mit angehaltenem Atem, bis er das Land hinter dem Wall sehen konnte. Endlich kam ein schmaler Streifen des dunklen Waldes in sein Blickfeld.
Die Furchthöhen. Die verseuchte Heimat der blutgierigen Grim.
Merik riss die Augen auf. Die Bäume der Furchthöhen hatten mit den Kiefern und Espen der nördlichen Marken nichts gemein. Es waren Monster. Sie reichten bis
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