Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
hatte sie alle an diesem Ort zusammengeführt.
Sie rief sich das Gesicht des kleinen Mädchens ins Gedächtnis. So viel strahlende Hoffnung in diesen dunklen Zeiten. Selbst ihre schlichte Liebe zu dem Jungen Rodricko war wie ein Signal für die Zukunft, für das kommende Leben. Saag wan berührte die Tasche ihres Anzuges aus Haifischhaut. Dort steckte immer noch die kleine Knospe von dem Stängel des Jungen. Sie zog sie heraus. Die violetten Blütenblätter waren nach wie vor fest geschlossen. Wann würde sie sich wohl öffnen? Rodrickos Blüte hatte den vulkanischen Rauch aus der Spalte gebraucht, um vollends zu erblühen …
Sie hatte den Rauch gebraucht. Saag wan fuhr herum.
Tyrus bemerkte die jähe Bewegung. »Saag wan …?«
Im Geiste wiederholt sie noch einmal, was er selbst gesagt hatte. Kast … ist dort nicht in seinem Element. Rasch ging sie zum Drachen zurück. Würde sie zu spät kommen?
»Was machst du da?« fragte Tyrus.
»Ich vertraue auf die Gabe eines Kindes«, antwortete sie und hielt die Knospe in den trüben Dampfstrom aus den Drachennüstern, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich noch einmal die Finger verbrannte. Sobald der Rauch die Blüte berührte, durchzuckte es sie wie ein Schlag. Sie keuchte auf.
Die Knospe erblühte in ihren Fingern, die Blütenblätter öffneten sich, der feurige Kelch wurde sichtbar.
Tyrus stand hinter ihr. »Was willst du damit erreichen?«
Saag wan zitterte. Ihre Sicherheit war dahin. Langsam zog sie die Blume aus dem Dampfstrom und trat zurück. Doch der Rauch folgte ihr, als würde er von der Blüte angelockt. Sie entfernte sich weiter. Rauchfinger umklammerten den Stängel und vereinigten sich dahinter zu einem Nebelarm.
Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wagte nicht zu sprechen, sondern ging nur immer weiter rückwärts. Aus dem Rauch löste sich eine Form, die mit jedem Schritt deutlicher wurde. Sie ging langsam, ließ ihr Zeit, sich zu entwickeln. Doch der Strom aus den Drachennüstern wurde rasch schwächer. Sie ahnte, dass alles verloren wäre, wenn sie die Gestalt nicht herauszöge, bevor der Rauch versiegte. Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Angst, kam sie ins Stolpern.
Dabei bewegte sie ihren Arm so heftig, dass sich das zarte Gebilde aufzulösen drohte.
»Vorsichtig«, sagte Tyrus hinter ihr und fasste sie unter der Schulter, um sie zu stützen.
Sobald ihre Hand ruhiger wurde, verfestigten sich auch die Umrisse der Gestalt. Tyrus hielt ihren Arm und führte sie. Vor ihnen entstand ein Mann, ein Schatten mit unverwechselbaren Zügen. »Kast«, stöhnte sie.
»Nur noch ein kleines Stück«, drängte Tyrus. »Rasch. Bevor der Drache erkaltet.«
Saag wan machte noch einen Schritt, und die Gestalt verdichtete sich. Nun hatte sie ein Gegenüber eine Rauchskulptur von Kast. Und zwischen ihnen befand sich die Knospe. Saag wan konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Tränen trübten den ersehnten Anblick. »Mein Liebster …«
Er schwieg ein Schatten nur.
Doch sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie streckte die freie Hand nach der Rauchwange aus. »Ich brauche dich.« In diese drei Worte legte sie ihre ganze Liebe.
Die Magik entzündete sich, nur diesmal hatte sie keinen Drachen gerufen. Unter ihrer Berührung wurde der Rauch zu Fleisch. Die Transformation breitete sich aus, erfüllte das Nichts mit Leben und Stoff. Wenig später stand Kast, noch etwas blass, aber heil und gesund, vor ihr.
»Saag wan«, murmelte er, als könne er es selbst noch nicht fassen.
Sie ließ die Hand sinken. Nur am Rande nahm sie wahr, dass aus der Drachentätowierung wieder ein einfacher Meerfalke geworden war. Ragnar’k war endgültig fort. Sie umarmte den Mann, dem ihr Herz gehörte. »Verlass mich nie mehr.«
»Nie mehr.« Erst ihre Berührung überzeugte ihn, dass alles Wirklichkeit war. Er schloss sie in die Arme und hob sie zu sich empor. Ihre Lippen verschmolzen zu einem langen Kuss. Sie waren nur noch zu zweit, doch was brauchten sie mehr?
Kast folgte Tyrus die Treppe hinab. Saag wans Hand hielt er fest in der seinen. Die Stufen waren so breit, dass sie zu viert nebeneinander Platz gehabt hätten, aber sie gingen nur paarweise und hielten sich dicht an der Wand, um der Hitze zu entgehen und nicht senkrecht in die Tiefe schauen zu müssen, wo die Lava glühte.
Vorn berieten sich Tyrus und Wennar mit gedämpfter Stimme. Dahinter schlossen sich zwei Piraten an, der eine blond, der andere schwarzhaarig, der eine ein Nordmann, der andere
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