Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
wurde von unsichtbaren Händen hochgehoben und gewürgt. »Ich war nicht wie mein Vater«, brüllte Ly’chuk. »Bei mir war es ein Versehen.«
»Lass ihn los!« befahl Tol chuk im gleichen Ton wie sein Vorfahr.
Ly’chuk stieß Magnam mit einem wütenden Blick so heftig von sich, dass der Zwerg bis an den Rand der Knochenarmee schlitterte. Ferndal und Dorn eilten ihm zu Hilfe.
Tol chuk vergewisserte sich, dass sein Freund überlebt hatte, bevor er sich abermals an Ly’chuk wandte: »Was geschah nach diesem Versehen?«
»Nichts. Ich lebte einen vollen Winter lang glücklich und zufrieden im Toktala Clan und zeugte ein Kind. Am Morgen seiner Geburt ging ich zur Geistpforte, um für meinen Sprössling zu beten und mich auf die Eide vorzubereiten, die ich dem Land zu schwören hatte. Aber …« Der Herr der Dunklen Mächte stockte, die geballte Faust spannte sich. Unter seinen Füßen wurde der Boden noch dunkler, von Zehen und Fersen breitete sich ein Netz von Sprüngen aus. Die nächsten Worte waren so schwarz wie der Stein, aus dem er bestand. »Aber das Land wusste Bescheid.«
Wieder verstummte er. »Das Land ist ein grausamer Herr, viel grausamer, als ich es jemals war.« Der schwarze Arm wies auf Ni’lahn und Merik. »Ihr wisst es. Ihr habt seinen Zorn gespürt. War nicht die Fäule, die eure Bäume und euer Volk zerstörte, ein Werk des Landes?«
Merik antwortete ihm. »Die Nyphai hatten versucht, die natürliche Ordnung zu verändern, um ihre Bäume überall zu verbreiten. Das Land handelte in Notwehr.«
»Indem es alles zerstörte und die Nyphai gnadenlos entstellte? Ist das eine angemessene Reaktion? Wie viele Unbeteiligte hatten seither unter den Grim Gespenstern zu leiden?« Er redete sich immer mehr in Rage. »Dieser Fluch hörte niemals auf, die Unschuldigen zu bestrafen und die Leidenden zu quälen.«
Ly’chuk sah Ni’lahn durchdringend an. Aus seinen schwarzen Augenhöhlen züngelten kleine Flämmchen. Sie senkte den Kopf.
»Sie weiß, dass ich die Wahrheit spreche.« Er winkte verächtlich ab. »Das Land verteilt seine Magik, aber sie ist kein Geschenk, sondern tyrannisiert uns nur. Kaum wagt man es, die vom Land gesetzten Grenzen zu überschreiten, schon wird man niedergeworfen und nicht nur einmal, sondern für alle Zeiten bestraft. So lange das Land existiert, werden wir niemals selbst über unser Leben bestimmen dürfen.« Sein Atem ging rasselnd. »Ich will diese Tyrannei beenden und die Welt befreien, indem ich den Geiststein zermalme und sein elementares Herz zerstöre.«
Alle schnappten nach Luft, nur Tol chuk blieb stumm.
Ly’chuk war in seinem Zorn taub für alles um sich herum und fuhr unbeirrt fort: »Ihr mögt mich verdammen, aber meine so genannten Verbrechen sind nur ein geringer Preis für einen großen Sieg. Viele mussten sterben, auf dass alle eine Zukunft hätten. Die heutige Nacht wird die Geschichte von ihren Fesseln befreien. Die Völker der Welt werden das Magik Joch des Landes abwerfen.«
Endlich sagte Tol chuk: »Aber was hat dir das Land denn angetan?«
Ly’chuk atmete schwer, er war dem Wahnsinn nahe. »Was mir das Land angetan hat? Wie bei den Grim, so hat es sich auch meiner Fähigkeiten bemächtigt und sie aufs Übelste missbraucht. Es nahm meine Gabe, die Kräfte eines Elementargeistes zu stärken, und verkehrte sie ins Gegenteil. Von da an verwandelte sich alles, was ich berührte, in Finsternis. Ich war dazu verdammt, anderen das anzutun, was das Land mir angetan hatte. So wurden im Umgang mit mir alle Elementargeister verdorben.«
»Du hast sie zu Bösewächtern umgeschmiedet«, verbesserte Tol chuk.
Ly’chuks Miene verfinsterte sich. Er hatte den Vorwurf wohl herausgehört. »Und warum auch nicht? Ich war der erste Bösewächter, das Land selbst hatte mich geschaffen. Damit hat alles Böse begonnen, das später von mir ausging.«
Tol chuk konnte allmählich ermessen, wie tief dieser Geist gestört war. Jahrhunderte des Zorns, der Demütigung, der Drangsal und vielleicht auch versteckter Schuldgefühle hatten sich verheerend ausgewirkt. Doch im Grunde war sein Vorfahr noch immer nicht bereit, die eigene Schuld anzuerkennen. Stattdessen hängte Ly’chuk seiner Rachsucht und seinem Groll das Mäntelchen einer edlen Sache um.
»An jenem Tag kämpfte ich gegen das Land. Ich griff sein elementares Herz an, suchte die schwarze Magik umzukehren und gegen ihren Urheber zu richten. Aber ich war zu schwach. Geschlagen und innerlich zerrissen, wie ich war,
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