Alaska
seinen Zuhörern ins Ohr, dass ein so erbärmlicher Mensch wie Oogruk einen Lippenpflock mit magischen Kräften besäße, auf der einen Seite einen Wal, auf der anderen ein Walross eingeritzt, und läutete dann seine üblen Manöver ein, die sich bei ähnlichen Situationen in der Vergangenheit bewährt hatten. Sein vorrangiges Ziel, das er keinem mitteilte, nicht einmal den Geistern, war, in den Besitz des Lippenpflocks zu gelangen.
Laut schreiend beklagte er den Tod des Harpuniers Shaktoolik, vergoss in aller Öffentlichkeit Tränen über den Verlust eines solch edlen Mannes und versuchte, nach Oogruks Schwiegervater auch Nukleet, dessen hübsche Tochter und Oogruks Frau, auf seine Seite zu ziehen. Da aber stieß er auf Schwierigkeiten, denn zur Überraschung aller, selbst ihres Vaters, wandte sich Nukleet nicht gegen ihren hilflosen Mann, nein, sie verteidigte ihn. Und die vielen kleinen Ungerechtigkeiten in den Angriffen gegen ihn aufzählend, konnte sie auch ihren Vater davon überzeugen, dass Oogruk eigentlich der Held der Expedition war und nicht derjenige, der alles verdorben hatte.
Warum handelte sie so? Sie erinnerte sich, dass ihre Tochter nicht von Oogruk stammte und dass ihr eigener Vater und mit ihm viele andere betrübt waren, als sie diesen schielenden Knaben heiratete, aber im Laufe der Jahre, es waren jetzt vier, hatte sie bei zahlreichen Gelegenheiten feststellen müssen, dass ihr Mann ein Mensch mit einem starken Charakter war. Er war ehrlich. Er arbeitete nach besten Kräften. Er liebte ihre Tochter zärtlich, sorgte für sie, als sei sie seine eigene, und teilte seine mageren Besitztümer mit ihnen, wohingegen andere junge Männer, denen allgemein mehr Wohlwollen entgegengebracht wurde, ihre Frauen verächtlich behandelten.
In diesen vier Jahren hatte sie Oogruks Verhalten auch mit dem von Shaktoolik verglichen, dem Vater ihres Kindes, und je mehr sie von dessen Gebaren mitbekam, desto mehr Respekt brachte sie ihrem eigenen unbeholfenen Mann entgegen. Shaktoolik war überheblich, er hatte seine beiden Frauen missbraucht , seine Kinder vernachlässigt und stellte immer wieder, auf mancherlei gehässige Art, seine angeborene Niederträchtigkeit unter Beweis. Er nahm anderen Männern ihre Lanzen weg und lachte die Bestohlenen auch noch aus. Er nahm ihre Frauen - und wehe, wenn sie sich wehrten. Tapfer war er, darüber waren sich die Männer einig, aber in allen anderen menschlichen Bereichen war er ein widerwärtiger Kerl, und wenn andere das nicht sehen wollten, sie tat es. Als der Schamane also diesen großen Wirbel wegen Shaktooliks Tod veranstaltete, beobachtete sie ihn, hörte, was er sagte, und schloss daraus, dass er wieder dabei war, eines seiner bösen Netze zu spinnen.
Obwohl sie mittlerweile erkannt hatte, dass Oogruk ein guter Mensch war, konnte sie sich noch nicht eingestehen, dass er auch klug war, und ging mit ihren Befürchtungen zu ihrem Vater und nicht zu ihrem Mann: »Der Schamane will Oogruk aus dem Dorf vertreiben.«
»Warum sollte er ihn vertreiben?«
»Er will etwas, das Oogruk gehört.«
»Und was könnte das sein? Dem Dummkopf gehört doch nichts,«
»Ich gehöre ihm.«
Mit sicherem Instinkt hatte Nukleet erkannt, aus welchem Grund der Schamane Oogruk noch loswerden wollte. Er begehrte den wunderschönen Lippenpflock, aber der würde lediglich seine Macht als Schamane vergrößern, seine Macht in der Öffentlichkeit. Für sich selber, als Mann, der in einem Erdloch abseits von den anderen am Rande des Dorfes lebte, für sich selbst begehrte er Nukleet und ihre Tochter, sie und mit ihnen die guten Beziehungen zum Häuptling. Er sah in ihr eine jener Frauen, die allem, was sie taten, eine gewisse Anmut verliehen. Vor vier Jahren hatte es ihn verwundert, dass sie Oogruk heiratete, anstatt Shaktooliks dritte Frau zu werden, aber jetzt war ihm klar: Sie wollte die erste sein und nicht die dritte. Er hoffte nun, dass sie die Möglichkeit, seine Frau zu werden, dem mächtigsten Mann in der Gemeinschaft zur Seite stehen zu dürfen, nicht ausschlagen würde.
Niemand in Pelek hätte jemals gewagt, diesem Despoten zu widersprechen, denn fremde Mächte beherrschten die Welt, und nur der Schamane allein wusste , wie man sie bezwang oder wenigstens versöhnlich stimmte, In diesem Sinne erfüllte er einen nützlichen Zweck. Wenn ein Eskimo starb, geleitete der Schamane mit komplizierten Ritualen den Geist des Toten an seine Ruhestätte, eine Versicherung für die Sippe, dass sich
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