Alba und Albion
und da konnte ich auf den Feldern gebückte Menschen ausmachen, die ihrem Tagewerk nachgingen.
„Dann haben wir noch den ganzen Tag vor uns.“
Leise murmelnd suchte ich nach der Sonne, um die ungefähre Uhrzeit zu ermitteln. Sie hatte noch nicht einmal den Zenit erreicht.
Boshaft lächelte sie mich an. „Na, du wirst es doch noch erwarten können, bis du deinen Zukünftigen wieder siehst!“
Grimmig blickte ich zurück. „Worauf du dich verlassen kannst!“
„Das hat aber lange gedauert. Ich dachte, ich komme gar nicht mehr zu meinem Schlaf!“
Ihre dunkle Stimme war die erste Überraschung für mich, hatte ich sie doch etwas munterer in Erinnerung.
Die Reise war anstrengend und ich war wie zerschlagen. Es mußte kurz vor Mitternacht gewesen sein und der Regen prasselte unnachgiebig auf uns nieder, als wir endlich das Haus erreichten. Ich stieg aus, rieb mir den Nacken und dehnte meine Bänder. Mein schwarzes Reisekleid war vom langen Sitzen total zerknautscht und Mary hielt sich stöhnend den Rücken. Das Hütchen, das meine Kleidung eigentlich perfekt abgerundet hätte, ließ ich achtlos in der Kutsche liegen, ebenso die Handschuhe.
Tante Emily begrüßte uns mit eisigem Blick und ihre Lippen hatte sie bei meinem Anblick zusammengekniffen. Anscheinend war ich doch nicht so willkommen, wie ich es mir erhofft hatte.
Nachdem wir uns im Inneren ihres Heimes nochmals höflich begrüßt hatten, nahmen wir noch einen kleinen Sherry zu uns. Ich gähnte hinter vorgehaltener Hand und hoffte, daß sie es nicht bemerkte. Dann fiel mir etwas ein und ich holte mein Täschchen hervor.
„Vater hat mir das für dich mitgegeben, liebste Tante.“
Artig überreichte ich ihr den Brief und Tante Emily erbrach das Siegel, ohne nachzudenken. Konzentriert las sie die Zeilen, faltete ihn wieder sorgsam zusammen und steckte ihn in eine Schublade. Sie ging im Zimmer umher und blieb, groß und stattlich wie sie war, vor mir stehen. Erstaunt sah ich vom Sessel auf.
„Nun denn. Du wirst einige Zeit in diesem Haus verbringen. Aber es herrschen eiserne Regeln, die hier jeder zu befolgen hat! Auch du. Erstens, wenn dein Verlobter alleine zu Besuch kommt, muß er vor Einbruch der Nacht das Haus wieder verlassen haben. Ich dulde kein Gerede in der Nachbarschaft. Zweitens -“
Ich hätte gerne etwas erwidert. Doch sie hob die Hand, um meinen Worteinwurf zu unterbinden.
„Zweitens, die Mahlzeiten werden pünktlich um Zwölf eingenommen. Ich erlaube keine Verspätungen und Ausreden schon gar nicht. Wenn du eine Mahlzeit verpassen solltest, mußt du eben bis zum Abendessen warten. Drittens, deine Zofe wird in deinen Räumen wohnen.“
Ich schluckte. Ein wenig Privatsphäre wäre eigentlich nicht schlecht gewesen. Verstohlen sah ich zu Mary, die völlig unbeteiligt etwas abseits auf einem Stuhl saß, ihre gefalteten Hände im Schoß. Doch ich kannte sie zu gut. Sie nahm alles mit den Ohren eines Luchses auf.
„Viertens, mein Butler ist kein Postbote. Wenn du Nachrichten zu verschicken hast, mußt du dich selbst um jemanden bemühen“, sie blickte in Richtung Mary, „der das für dich erledigt. Fünftens -“
Und so ging es weiter, bis zu vierzehntens. Dann fiel ihr anscheinend nichts mehr ein, wie sie mir den Aufenthalt vermiesen konnte und ich wurde schließlich entlassen. Dankbar gab ich ihr einen Gutenachtkuß auf die Wange, wogegen sie sich seltsamerweise nicht wehrte.
Unsere Unterkunft war eine Überraschung. Es bestand aus einem geräumigen Salon mit zwei großen Zimmern im ersten Obergeschoß, die durch eine Schiebetüre getrennt wurden und in jedem der Räume stand ein großes, gemütliches Himmelbett, diverse Kleinmöbel und Sitzgelegenheiten. Doch die Krönung war der riesige Balkon mit seinem überwältigenden Ausblick. Da das Haus mit der Rückseite an einem kleinen Hang gebaut war, konnte ich über die anderen Häuser bis zum Zentrum der lebhaften Stadt blicken. Mary trat hinter mich und legte mir eine Stola um die Schultern.
„Wenn du genug gesehen hast, dann komm wieder rein. Es ist spät und ich bin müde.“ Gähnend schlurfte sie in ihren Teil des Salons und mit einem leisen „Gute Nacht, Kindchen“ schloß sie schließlich die Verbindungstüre.
Ich verweilte noch einige Zeit auf den Balkon, bis ich merkte, daß ich vor Kälte mit den Zähnen klapperte.
Wenn ich an meine Tante dachte, mußte ich unwillkürlich kichern. Vater hatte mich vorgewarnt. Wie er mir erzählte, war sie mit ihren fast
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