Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
dachte ja nur wegen der tschechischen Grenze und den Alleingängen«, Alfred legte den Kopf schief.
»Wer sagt, dass ich alleine gehe?«, grinste er.
Als er ins Büro zurückkam, fand Alfred eine barfüßige Renan vor. Sie hatte ihren Bürostuhl in Kipplage gebracht und die Beine auf ihrem Schreibtisch geparkt. Auf der Ablage an der gegenüberliegenden Wand wirbelte ein Tischventilator und aus dem Radiorekorder tönte türkische Popmusik.
»Ah, meine Kollegin in ihrer bevorzugten Arbeitshaltung«, sagte Alfred.
»Hab ich alles von dir gelernt«, erwiderte Renan, ohne die Augen zu öffnen.
»Wo hast du denn dieses Gerät her?«, Alfred musterte die ihm unbekannte Windmaschine. Sie schien schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben. Der untere Teil des Fußes bestand aus blaugrauem Plastik, der obere Teil war gelblich-weiß. In der Mitte prangte das Logo der Firma Progress. Die Rotorblätter waren dunkelgrau und nicht von einem schützenden Gitter umgeben.
»Kopierraum, letzter Schrank links, oberstes Fach, ganz hinten«, Renan nahm die Füße von der Tischplatte und griff zur Teetasse.
»Und der hat noch funktioniert?«, fragte Alfred überrascht, sich auf seinem Stuhl niederlassend.
»Tadellos. Musste nur ein bisschen abgestaubt werden.«
»Und was bringt dich dazu, im hintersten Winkel des letzten Schrankes im Kopierraum herumzustöbern?«, forschte Alfred nach.
»Ich habe Papier gesucht, das größer ist als A3, weil ich unseren Fall mal als grafische Übersicht aufzeichnen wollte. Ich fürchte nämlich, dass mir langsam die Ideen ausgehen«, sie stützte das Kinn in die linke Hand und blickte müde in die Augen ihres Gegenübers.
»Ist das Tarkan?«, fragte Alfred auf das Radio deutend.
»Ja, kennst du ihn?«
»Na, hör mal«, entrüstete er sich, »ich mag ja über fünfzig sein, aber ich kriege schon noch mit, was um mich herum passiert.«
»Das ist meine Not-CD«, erklärte Renan, »er mag nicht toll sein, aber im Radio spielen sie schon wieder Modern Talking rauf und runter«, sie schüttelte sich.
Gerade als Alfred einen größeren Vortrag begonnen hatte, der seiner jungen Kollegin vermitteln sollte, dass sich auf dem Gebiet der Popmusik seit den siebziger Jahren überhaupt nichts mehr getan hätte und die einzig zeitlose Form so genannter U-Musik der Jazz sei, klingelte Renans Telefon.
»Mordkommission Müller.«
»Ja, guten Tag auch. Hier ist Lenzen vom Bundesverwaltungsamt.«
»Herr Lenzen, das freut mich aber, dass Sie anrufen. Ich wollte mich bei Ihnen noch für die schnelle und unbürokratische Hilfe bedanken«, flötete Renan.
»Gern geschehen, gern geschehen. Wie ich höre, haben Sie aber kein Glück gehabt.«
»Ja, es sieht so aus, als wäre unser Mann nicht als Aussiedler registriert. Ist wohl doch irgendwie illegal eingereist.«
»Dann ist natürlich die Kacke am Dampfen. Ich wollte Sie nur zur Sicherheit fragen, ob Sie auch an die jüdischen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen UdSSR gedacht haben. Die haben natürlich mit den Aussiedlern nichts zu tun.«
»Jüdische was?«
X. FLUCHT
Valentina Kashevska saß kerzengerade auf ihrem Küchenstuhl. Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie dreißig oder fünfzig war. Sie blickte Renan aus dunkelgrünen Augen an, schenkte ihr ungefragt eine Tasse Kaffee ein und zündete sich eine Zigarette an, was Alfred ebenfalls zum Etui greifen ließ. Die Wohnung befand sich in einem sanierten Viertel, dessen Bewohner überwiegend der deutschen Mittelschicht angehörten. Die Küche erinnerte Renan an ihre Kindheit, als Einbauküchen noch nicht üblich beziehungsweise noch sehr teuer waren. Es gab einen allein stehenden Gasherd, einen Spülschrank sowie zwei Hängeschränke mit glatter weißer Oberfläche. Auf der anderen Seite stand ein cremeweiß gestrichenes Küchenbuffet aus der Vorkriegszeit. Sie saßen an einem Tisch mit winzigklein karierter Resopalplatte und massivem Buchengestell. Der Raum verfügte über eine Fenstertür, die auf einen kleinen Balkon führte. Die Wohnung wirkte auf Renan irgendwie stilsicherer als die der Balenkows, wenngleich sie auch hier dasselbe Gefühl beschlich: als ob die Zeit langsamer verginge und die Uhrzeiger kaum von der Stelle kämen. Frau Kashevska hatte keine entsetzten Fragen gestellt, als die Polizei vor ihrer Wohnungstür stand. Sie hatte ihre Besucher lediglich in die Küche gebeten, einen Stapel kyrillisch bedruckter Blätter vom Tisch geschoben und drei Tassen hingestellt. Sie sprach sehr
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