Albert Schweitzer
die Religionsphilosophie Immanuel Kants (1724–1804) vor, was Schweitzer sehr zusagte.
Den folgenden Winter (Oktober 1898 bis März 1899) verbrachte Schweitzer in Paris, um an der Sorbonne Philosophie zu studieren und sich bei Widor im Orgelspiel weiter zu verbessern. Am Universitätsgeschehen nahm er nur sehr unregelmäßig teil; der veraltete Lehrbetrieb lag ihm nicht. So konzentrierte er sich in der Hauptsache auf die musikalische Kunst und die Arbeit an der philosophischen Dissertation. Bei Isidore Philipp nahm er zusätzlich Klavierunterricht und wurde gleichzeitig von Marie Jaell-Trautmann in der Verbesserung seiner Anschlagtechnik gefördert. Dieser Lehrerin verdankte Schweitzer viel für sein zunehmend virtuoses Orgelspiel. Da die beiden Klavierpädagogen gegenseitig geringschätzig voneinander dachten, sah sich Schweitzer genötigt, ihnen zu verheimlichen, dass er auch beim jeweils anderen am Klavier unterrichtet wurde.
Widor, der ihm inzwischen wegen seiner herausragenden musikalischen Begabung kostenlosen Unterricht erteilte, sorgte dafür, dass Schweitzer mit einer Reihe bedeutender Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens in Paris bekannt wurde. Er war auch um das leibliche Wohl seines Schülers besorgt und nahm ihn öfter in sein Stammlokal mit, damit Albert sich wieder einmal rundum satt essen konnte. Schweitzers robuste Gesundheit erlaubte es ihm, bis tief in die Nacht hinein konzentriert zu arbeiten. So musste die Doktorarbeit unter der Musik und den gesellschaftlichen Anlässen keineswegs leiden. Es kam gelegentlich sogar vor, dass Schweitzer morgensbei Widor vorspielte, ohne die Nacht zuvor überhaupt geschlafen zu haben.
Seine philosophische Dissertation fertigte er an, ohne dabei auf die umfängliche Sekundärliteratur zurückzugreifen. Das hatte einen ganz pragmatischen Grund: Der schwerfällige Betrieb im Lesesaal (sprich: die komplizierte Ausleihe und Beschaffung von Literatur) veranlasste ihn, „die Arbeit zu machen, ohne mich mit der Literatur abzugeben, und zu sehen, was sich mir beim Vergraben in die Kantschen Texte ergäbe“.
Im Gegensatz zu anderen Darstellungen der Religionsphilosophie Kants ging Schweitzer davon aus, dass hier kein geschlossenes religionsphilosophisches System, kein einheitlicher Grundriss vorlag, sondern dass in der kantischen Religionsphilosophie Entwicklungsstufen auszumachen seien, wie er in seiner Autobiografie „Aus meinem Leben und Denken“ (1931) schreibt: „Die Religionsphilosophie Kants, die man mit der Religionsphilosophie der drei Postulate (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) identisch setzen wollte, ist also in stetem Fluss. Dies geht darauf zurück, dass die Voraussetzungen des kritischen Idealismus und die religionsphilosophischen Forderungen des Sittengesetzes in Antagonismus zueinander stehen. Eine kritische und eine ethische Religionsphilosophie gehen bei Kant nebeneinander her. Er sucht sie miteinander auszugleichen und ineinander zu arbeiten … Statt bei der von dem kritischen Idealismus festgelegten Religionsphilosophie zu verharren, lässt Kantsich also von der Religionsphilosophie des sich immer vertiefenden Sittengesetzes weiterführen. Weil er tiefer wird, kann er nicht konsequent bleiben.“
Mitte März 1899 kehrte Schweitzer nach Straßburg zurück und legte Ziegler die fertige Arbeit vor. Der äußerte sich sehr zustimmend, und so konnte die Promotion auf Ende Juli festgesetzt werden. Noch im gleichen Jahr erschien die über 320 Seiten starke Doktorarbeit als Buch.
Den Sommer 1899 verbrachte Schweitzer in Berlin, um seine philosophischen Studien zu vertiefen. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die Hauptwerke der alten und neuen Philosophie zu lesen. Doch er nahm auch an theologischen Veranstaltungen teil, war vor allem tief beeindruckt vom umfangreichen Wissen und der Universalität Adolf von Harnacks (1851–1930), des überragenden Kirchen- und Dogmengeschichtlers. Durch Vermittlung von Freunden verkehrte er im Hause des großen Gelehrten, war anfänglich so eingeschüchtert, dass er dem Bewunderten aus Verlegenheit kaum Antwort zu geben wusste, wenn dieser das Wort an ihn richtete. Später sollte sich zwischen beiden ein gelegentlicher Briefwechsel (von Harnack pflegte grundsätzlich auf Postkarten zu schreiben) ergeben, der den Zeitraum von 1913 bis 1930 umfasste. Schweitzer vermerkte nicht ohne Stolz und Dankbarkeit, dass er wohl zu den letzten Empfängern einer schriftlichen Mitteilung aus der Feder von Harnacksgehörte.
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