Albert Schweitzer
Schweitzer aufgegangen, dass es ihm vergönnt war, in „idealen“ Verhältnissen aufzuwachsen, während etliche seiner Schulkameraden in ärmlichen, traurigen Familienverhältnissen zu leben genötigt waren. Als Student wurde ihm die eigene privilegierte Situation vollends bewusst: „Auf der Universität musste ich in meinem Glücke, studieren zu dürfen und in Wissenschaft und Kunst etwas leisten zu können, immer an die denken, denen materielle Umstände oder die Gesundheit solches nicht erlaubten.“ Er zog mit der für ihn typischen Beharrlichkeit aus diesem in seiner Sicht unverdienten Glück eine lebensentscheidende Konsequenz: „An einem strahlenden Sommermorgen, als ich – es war im Jahre 1896 – in den Pfingstferien zu Günsbach erwachte, überfiel mich der Gedanke, dass ich dieses Glück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse. Indem ich mich mit ihm auseinandersetzte, wurde ich, bevor ich aufstand, in ruhigem Überlegen, während draußen dieVögel sangen, mit mir selber dahin eins, dass ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen.“
Diese Zukunftsentscheidung war durch Schweitzers christlichen Glauben, seinen unbedingten Willen zur Nachfolge Jesu motiviert. Er hatte intensiv darüber nachgedacht, welche Bedeutung das Jesus-Wort „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“ (Matthäus 16,25) für ihn ganz persönlich haben könnte. Jetzt, nach diesem Entschluss, war die Bedeutung gefunden: „Zu dem äußeren Glücke besaß ich nun das innerliche.“
Zu diesem Zeitpunkt war ihm jedoch überhaupt noch nicht klar, in welcher Weise er diesen Zukunftsplan umsetzen würde. Nur eines wusste er: Es musste ein „unmittelbar menschliches, wenn auch noch so unscheinbares Dienen“ sein.
Schweitzer dachte zunächst an eine Tätigkeit in Europa, und sein erster Plan war wie gesagt, verwaiste oder verwahrloste Kinder bei sich aufzunehmen und für sie zu sorgen. Alle Versuche, diesen Plan zu realisieren, schlugen jedoch fehl. Sie scheiterten an der Ablehnung der jeweils zuständigen Behörde oder Einrichtung. Einem ehelosen Vikar und Studienstiftsdirektor die Betreuung von Waisenkindern anzuvertrauen schien denzuständigen Personen nicht opportun. Schweitzer hatte auch daran gedacht, sich Obdachlosen oder entlassenen Strafgefangenen zu widmen und wurde auch in diesem karitativen Bereich tätig. Als Mitglied der studentischen Vereinigung „Diaconat Thomana“ kümmerte er sich um eine ihm zugewiesene Anzahl armer, hilfsbedürftiger Familien. Um Gelder für diese Familien aufzubringen, waren zweimal im Jahr Bittgänge zu erledigen. „Für mich, der ich schüchtern und gesellschaftlich ungewandt war, waren sie eine Pein. Ich glaube, dass ich mich bei diesen Vorstudien für mein späteres Betteln zuweilen sehr ungeschickt benommen habe, aber gelernt habe ich dabei, dass das Bitten mit Takt und Zurückhaltung von den Menschen besser verstanden wird als das forsch auftretende und dass zum rechten Betteln auch das freundliche Ertragen des Zurückgewiesenwerdens gehört.“ Schweitzer war klar geworden, dass diese Form der Sozialarbeit nur dann effektiv sein könnte, wenn er sich einer dafür zuständigen Organisation anschließen würde. Das aber wäre nicht in seinem Sinn gewesen: Er wollte als „ein Freier“ tätig werden.
Den entscheidenden Fingerzeig des Schicksals erhielt Schweitzer im Herbst 1904. Die Pariser Missionsgesellschaft informierte in ihrer Monatsbroschüre über die bittere Not der Menschen im Kongo und den Mangel an tatkräftigen Christen, die helfen wollten im Kampf gegen diese Not. Der Artikel, verfasst vom Leiter der Missionsgesellschaft Alfred Boegner, endete mit den Worten:„Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit ‚Herr, ich mache mich auf den Weg‘ antworten, dieser bedarf die Kirche.“ Schweitzer verstand diesen Aufruf ganz persönlich: „Als ich mit dem Lesen fertig war, nahm ich ruhig meine Arbeit vor. Das Suchen hatte ein Ende.“ Der Entschluss, als Helfer den bedürftigen Menschen in Afrika zu dienen, war gefasst. Doch das „Wie?“ dieser Hilfe war damit noch nicht geklärt. Sein Ruf als liberaler Theologe verhinderte, wie erwähnt, dass Schweitzer von den orthodoxen Mitgliedern der Pariser
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