Albert Schweitzer
anmutende mystische Erlösungslehre auf griechische Vorstellungen zurückzuführen, undurchführbar sei und dass einzig und allein eine Erklärung aus der Eschatologie (= Lehre von den Letzten Dingen) infrage kommen könne.“
Neben der Paulus-Arbeit hatte sich Schweitzer auch noch die Bürde aufgeladen, zusammen mit Widor eine Ausgabe der Orgelwerke Bachs zu besorgen, in die Anleitungen über die Art, wie Bach zu spielen sei, eingearbeitet wurden. Diese gemeinsame Arbeit war wieder mitzeitraubenden Reisen nach Paris verbunden. Und zweimal reiste Widor für mehrere Tage nach Günsbach, um mit Schweitzer die Bach-Ausgabe voranzubringen.
Nach Abschluss aller notwendigen Vorbereitungen und Erledigung mancher durchaus lästigen Formalität war es endlich so weit: „Im Februar 1913 wurden die siebzig Kisten zugeschraubt und als Fracht nach Bordeaux vorausgesandt.“ Wie vorausschauend Schweitzer die erste Ausreise nach Afrika geplant hatte, mag eine scheinbar unwichtige Begebenheit belegen: Helene wunderte sich darüber, dass ihr Mann darauf bestand, 2000 Mark in Gold mitzunehmen, anstatt sich nur auf Papiergeld zu verlassen. Er gab ihr zur Antwort, dass mit der Möglichkeit eines Krieges zu rechnen sei und dann das Gold seinen Wert behielte, während Papiergeld wertlos werden könnte oder man Bankkonten einfach sperren würde. Eine bittere Voraussicht, die sich nur allzu bald bewahrheiten sollte.
Der Abschied von der Heimat fiel Helene und Albert wie auch den zurückbleibenden Familienangehörigen sehr schwer. Schweitzers Mutter blieb aus Sorge, Enttäuschung und Verbitterung der wehmütigen Zeremonie am Günsbacher Bahnhof fern. Albert sollte sie nicht wiedersehen, denn die geliebte Mutter wurde 1916 in Günsbach von einem scheuenden Militärpferd überrannt und starb an den Folgen dieses tragischen Unfalls.
Mancher Schweitzer-Biograf gibt sich verwundert, dass Schweitzer so nahegehende Ereignisse wie den Tod derMutter oder auch seine eigene Hochzeit und die Geburt der einzigen Tochter Rhena fast beiläufig in seinen Aufzeichnungen erwähnt, und vermutet gar emotionale Kälte bei ihm. Diese meist verhalten geäußerte Kritik scheint mir nicht angemessen. Schweitzers Zurückhaltung in der Offenlegung seines Privatlebens, seiner Gefühlswelt, ist wohl eher Ausdruck des Wunsches, nach außen hin nicht viel von seinem Seelenleben preiszugeben, und darf keineswegs voreilig als Gefühlskälte oder Gleichgültigkeit gewertet werden. Schon im einleitenden Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass es zu Schweitzers Wesensmerkmalen gehörte, sich selbst nicht in den Vordergrund drängen zu wollen. Dieser Charakterzug macht sich wohl auch da bemerkbar, wo er über Dinge, die ihn innerlich zutiefst betroffen haben dürften, nach außen hin schweigsam bleibt. Wer einen Eindruck davon gewinnen möchte, wie gefühlsbetont Schweitzer sein konnte, der findet dazu zahlreiche Belege in dem – gewiss nicht für die Öffentlichkeit bestimmten – Briefwechsel zwischen Helene und Albert aus den zehn Jahren vor ihrer Eheschließung.
A NFANG IN A FRIKA: L AMBARENE , E RSTER W ELTKRIEG , D EPORTATION
„Am Karfreitagnachmittag 1913 verließen meine Frau und ich Günsbach; am Abend des 26. März schifften wir uns in Bordeaux ein.“ Mit diesen schlichten, sachlichen Worten schilderte Albert Schweitzer den Anfang dessen, was für ihn und seine Frau zur großen, mehr als fünf Jahrzehnte umfassenden Lebensaufgabe werden sollte. Die Anfänge in Lambarene waren für Helene und Albert schwierig – aber glücklich. Schon die Reise nach Afrika war für beide ein unvergessliches Erlebnis. Schweitzer schilderte sie in seinem 1921 erschienenen ersten Afrika-Rückblick („Zwischen Wasser und Urwald“) lebendig und nicht ohne Humor. Von stürmischer See, interessanten Begegnungen an Bord, Afrika-Erfahrungen der Mitreisenden ist die Rede; Zollschwierigkeiten, erste Erlebnisse mit Einheimischen, tiefe Eindrücke beim Anblick des endlos scheinenden Urwalds werden geschildert: „Wasser und Urwald ...! Wer vermöchte diese Eindrücke wiederzugeben? Es ist uns, als ob wir träumten. Vorsintflutliche Landschaften, die wir als Fantasiezeichnungen irgendwo gesehen haben, werden lebendig. Man kann nicht unterscheiden, wo der Strom aufhört und das Land anfängt ... So geht es fort, Stunde um Stunde. Jede Ecke, jede Biegung gleicht der anderen. Immer nur derselbe Wald, dasselbe gelbe Wasser. Die Monotonie steigert die Gewalt dieser Natur insUngemessene. Man
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