Albert Schweitzer
Einzeldasein aufhört, das Dasein außer uns in das unsrige hereinflutet.“
„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
– Wir können erkennen, dasswir ein Teil der Schöpfung sind, umgeben von einer erstaunlichen Vielfalt anderer Lebewesen. Dies macht die Sonderstellung des Menschen im großen Reigen des irdischen Lebens aus. Ich erkenne: Der Lebenswille, der in mir wirksam ist, wirkt auch in jedem anderen Lebenswillen. Selbst die Pflanze, die den Boden durchbricht, um dem Licht entgegenzuwachsen, folgt diesem umfassenden und ursprünglichen Lebenswillen. Konsequent lautet deshalb der vollständige Satz Schweitzers: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben,
das leben will
. Man muss genau hinschauen: Schweitzer schrieb am Schluss seines so grundlegenden Satzes nicht: „das
auch
leben will“: Diese Auslassung ist eine wichtige Radikalisierung. Anderes Leben will
auch
leben, das ließe sich verstehen als: Aber an erster Stelle komme ich!
Schweitzer ging es darum, alles Leben als gleichermaßen wertvoll anzusehen und sich auf keine Rangordnung einzulassen: Es gibt kein wertloses Leben, schrieb er in aller Deutlichkeit in seiner Autobiografie von 1931, zwei Jahre vor Hitlers Machtergreifung!
Kritiker wie H. Groos haben Schweitzer vorgehalten, seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die von der Gleichwertigkeit allen Lebens ausgehe, sei in der Praxis überhaupt nicht durchzuhalten, da er ja selbst ständig genötigt sei, Entscheidungen zu treffen, welches Leben höher, wertvoller einzuschätzen sei als anderes. Er musste täglich Fische töten, um einen jungen Fischadler durchzufüttern, den man ihm anvertraut hatte. Er erschossSchlangen, um die Tiere des Spitals vor ihnen zu schützen. – Aber Schweitzer war sich dieses Dilemmas vollauf bewusst. Und er hat in jeder solcher Entscheidungen, Leben zu vernichten, um anderes zu erhalten, schwer mit seinem Gewissen gerungen. Aber gerade darum ging es ihm: dass wir nicht unüberlegt oder gar zur Belustigung Leben vernichten, sondern in jedem Einzelfall nach reiflicher Überlegung unsere Entscheidung treffen.
Er veranschaulichte dies an verschiedenen Beispielen. Der Bauer, der sein Feld aberntet, um Korn für Brot zu gewinnen, vernichtet zweifellos Leben. Er tut dies aus der Notwendigkeit, den Hunger seiner Mitmenschen zu stillen. Reißt derselbe Bauer nach getaner Arbeit Blumen am Wegesrand ab, um sie wegzuwerfen, so ist dies verantwortungslos.
Mehrfach fiel in diesem Abschnitt über Schweitzers Ethik das Wort „Gedankenlosigkeit“. Dieser Begriff spielte für Schweitzer eine zentrale Rolle. Schweitzer war im Grunde vom Guten im Menschen überzeugt. Viel Übel geschieht einfach deshalb, weil wir gedankenlos handeln. „Die große Not unserer Zeit ist die Gedankenlosigkeit“, schrieb er einmal. Und in einer Predigt sagte er: „… gerade weil wir unter dem furchtbaren Naturgesetz stehen, dass das Lebendige Lebendiges töten lässt, müssen wir mit Angst darüber wachen, dass wir nicht aus Gedankenlosigkeit vernichten, wo wir nicht unter dem Zwang der Notwendigkeit stehen. Wir müssen jedes Vernichten immer als etwas Furchtbares empfindenund uns in jedem einzelnen Falle fragen, ob wir die Verantwortung dazu tragen können, ob es nötig ist oder nicht.“
Schweitzers Ethik ist eine Philosophie der Lebensbejahung. Sie ergibt sich aus der Verinnerlichung der Grundeinsicht: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Schweitzer schreibt: „Bejaht der Mensch seinen Willen zum Leben, so verfährt er in natürlicher und wahrhaftiger Weise. Er bestätigt eine bereits im instinktiven Denken vollzogene Tat, indem er sie bewusst wiederholt. Anfang, stetig sich wiederholender Anfang des Denkens ist, dass der Mensch sein Sein nicht einfach als etwas Gegebenes hinnimmt, sondern es als etwas unergründlich Geheimnisvolles erlebt. Lebensbejahung ist die geistige Tat, in der er aufhört dahinzuleben und anfängt, sich seinem Leben mit Ehrfurcht hinzugeben, um es auf seinen wahren Wert zu bringen. Lebensbejahung ist Vertiefung, Verinnerlichung und Steigerung des Willens zum Leben.“
Jemand könnte einwenden: Mir ist es genug, mein eigenes Leben zu bejahen; aber Ehrfurcht vor
allem
Leben? Für Schweitzer ist dieser Einwand inakzeptabel, weil inkonsequent: „Zugleich erlebt der denkend gewordene Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Er
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