Albert Schweitzer
„Wenn in einer Familie Zwietracht und Hader herrscht, wenn sogar Feindschaft ausbricht, Schimpfworte und Beleidigungen hin und her fliegen und man sich zuletzt vor Gericht gegenseitig verklagt – ist das so von einem Tag gekommen? Wenn die Eltern und die Kinder untereinander sich kein freundliches Wort mehr gönnen, ist das so von einem Tag gekommen? Wenn langjährige Freunde sich entzweien, geht das auf einmal? O nein. An dem, was wir leider selbst an uns erfahren und rings um uns sehen und hören, wissen wir, wie es zugeht.“
Dieser Hinweis Schweitzers auf den eigenen Verantwortungsbereich ist wichtig. Wahrer Friede ist immer etwas, was man als Zustand des Herzens bezeichnen könnte. Dies gilt im Kleinen wie im Großen. Wenn zwischen Völkern politisch Frieden vereinbart wird ohne die bekennende und vertrauensvolle Zustimmung der Menschen, die durch dieses Übereinkommen betroffen sind, so ist die Vereinbarung nicht viel mehr wert als das Vertragspapier.
Ein wichtiger Gedanke aus Schweitzers Predigt betrifft die Wahrhaftigkeit. Schweitzer warnte seine Zuhörer davor, Friedfertigkeit mit jener Haltung zu verwechseln, die es allen Menschen recht machen will: „... die Seligpreisung über die christliche Friedfertigkeit hängt gar nicht davon ab, ob dadurch, ob durch sie der Friede überall hergestellt wird. Wo man diese falsche Meinunghegt, da verwechselt man immer die christliche Friedfertigkeit mit dem Bestreben und der Kunst, es allen Leuten recht zu machen; gerade die Leute, die selbst mit dem Christentum nichts zu tun haben, deuten das so aus, weil es ihnen so bequem ist, und sagen, Christus habe seinen Anhängern befohlen, allen Leuten zu Gefallen zu leben.“ Schweitzer gesteht offen, dass er eine große Abneigung gegen Leute hege, die sich überall im Leben durchschlängeln. „Wenn ich solche Leute loben höre, dass sie es allen recht gemacht haben, so möchte ich immer sagen: Das kann schon wahr sein, aber etwas Rechtes haben sie auch nicht gemacht; um es allen recht zu machen, haben sie manchmal ein Wort, das gesagt werden musste, unausgesprochen gelassen, haben sie manchmal eine Sache, die sie für richtig und edel erkannten, nicht unterstützt, oder vielleicht einmal gar mit der großen Menge dagegen gehandelt. Und wenn diese Art sich mit noch so viel christlichen Reden ziert, ist sie doch eine falsche christliche Friedfertigkeit, und mit ihrem rechten Namen heißt sie Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit, Charakterlosigkeit.“
Um der Wahrheit willen darf es keine falsche Nachgiebigkeit geben. Die Wahrheit erfordert klares, ruhiges, mutiges Bekennen. Aber solches Bekennen steht nicht im Widerspruch zur Friedfertigkeit. Im Gegenteil: christliche Friedfertigkeit und christliche Unnachgiebigkeit (um der Wahrheit willen) bedingen einander. Jesus hat dies vorgelebt. Als friedfertiger Mensch hat er doch denKonflikt um der Wahrheit willen nicht gescheut, sondern ihn geradezu herausgefordert. Und er hat die, die ihm nachfolgen wollten, zu gleichem Tun aufgerufen.
„Wenn nun die Seligkeit, welche der Friedfertigkeit verheißen ist, weder in der Ausdehnung des Friedens über die ganze Welt bestehen kann, ja, wenn es sich sogar zeigt, dass der Friedensfürst [= Jesus] von sich selbst und uns verlangt, dass wir kämpfen für das Heilige, das Wahre, das Edle, das Gute, worauf beruht dann das Gefühl der Seligkeit in der Friedfertigkeit? Ihr seht schon, diese Seligkeit kann nicht etwas Äußerliches sein, sondern etwas Innerliches: Diese Seligkeit kann auch dann in unsern Herzen wohnen, wenn rings um uns der Kampf tobt und wir selbst in dem Kampf begriffen sind.“ Am Ende seiner Predigt gibt Schweitzer seiner Gemeinde die freundliche, aber bestimmte Mahnung mit auf den Weg: „Sei immer so friedfertig oder unnachgiebig, dass du dadurch dich als Kind Gottes bewährst. So wirst du in der Nachahmung unseres Herrn den rechten Weg finden. Wo deine Person allein im Spiel ist, sei friedfertig bis zum Äußersten, wo die Güter des Christentums infrage kommen, da zeige auch nicht die geringste falsche Nachgiebigkeit – so möchte ich die Grundgedanken unserer Betrachtung für unser tägliches Leben zusammenfassen.“
Auch in seiner Auslegung derselben Bibelstelle vom 27. Januar 1907 grenzte Schweitzer die wahre Friedfertigkeit von der unentschlossenen Haltung, es allen rechtmachen zu wollen, deutlich ab: „Warum ist dies nicht die christliche [Haltung]? Weil sie nicht auf der Wahrhaftigkeit ruht. Man verlangt von
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