Albert Schweitzer
alles Sein hervorgerufen hat. Der Nichtglaubende kann nicht anders, als vor diesem Geheimnis stehen zu bleiben. Beide – Glaube und Unglaube– sind nach Schweitzer aufgefordert (und müssen, wenn sie darüber reflektieren, „denknotwendig“ dahin gelangen), das Leben als Mysterium mit Respekt und Demut anzuerkennen. Im Buch Jesaja heißt es: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (43,1). Man könnte darin eine Art theologischer Entsprechung zu Schweitzers Grundgedanken sehen: Gott hat jeden von uns beim Namen gerufen. Das ist die Dimension des „Ich“. Gott meint mich und jedes Lebewesen ganz persönlich. Und wir sind
sein
. Gott, nur er allein, verfügt als Schöpfer über alles Sein und Leben.
„
Ich bin Leben, das leben will …“
. – Alles Leben, auch das menschliche, ist erfüllt von dem Streben, leben zu
wollen
. Wiederum stellen wir fest: Wenn wir darüber nachdenken, woher dieser Wille zum Leben stammt, stoßen wir auf ein Geheimnis. In der Natur äußert sich dieser Wille zum Leben als Wille zum
Über
leben, als Selbsterhaltungstrieb. Schweitzer, der uns Menschen zur Ehrfurcht vor dem Leben anleiten will, hat diesen unerbittlichen Konkurrenzkampf in der Natur klar gesehen:
„Der große Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst. Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen. Die Natur lässt sie die furchtbarsten Grausamkeiten begehen. Sie leitet Insekten durch Instinkt an, mit ihrem Stachel Insekten anzubohren und ihre Eier in sie hineinzulegen, dass das, was sich aus dem Ei entwickelt, von der Raupeleben und sie damit zu Tode quälen soll. Sie leitet die Ameisen an, sich zusammenzutun und ein armes kleines Wesen anzufallen, um es zu Tode zu hetzen. Schaue der Spinne zu! Wie grauenvoll ist das Handwerk, das sie die Natur gelehrt! Die Natur ist schön und großartig, von außen betrachtet, aber in ihrem Buch zu lesen, ist schaurig. Und ihre Grausamkeit ist so sinnlos! Das kostbarste Leben wird dem niedersten geopfert. Einmal atmet ein Kind Tuberkelbazillen ein. Es wächst heran, gedeiht, aber Leiden und früher Tod sitzen in ihm, weil diese niedersten Wesen sich in seinen edelsten Organen vermehren. Wie oft packte mich in Afrika das Entsetzen, wenn ich das Blut eines Schlafkranken untersuchte. Warum saß der Mann mit leidenverzerrtem Gesicht da und stöhnte: Oh, mein Kopf, mein Kopf! Warum musste er Nächte hindurch weinen und elend sterben? Weil da, unter dem Mikroskop, feine, kleine, blasse Körperchen, zehn bis vierzehn tausendstel Millimeter lang, vorhanden waren – oh, nicht viele, oft nur ganz wenige, sodass man zuweilen Stunden suchen musste, um nur eines zu entdecken! So steht auch hier … Leben gegen Leben und schafft den anderen Leiden und Tod … Die Natur lehrt grausamen Egoismus, nur dadurch auf kurze Zeit unterbrochen, dass sie in die Wesen den Trieb gelegt hat, dem Leben, das von ihnen abstammt, so lange es ihrer bedarf, Liebe und Helfen entgegenzubringen. Aber dass das Tier seine Jungen mit Selbstaufopferung bis zum Tode liebt, also hier mitfühlen kann, macht es nur noch schrecklicher,dass ihm das Mitleiden für die Wesen, die nicht in dieser Weise mit ihm zusammengehören, versagt ist.“
Allein der Mensch – und diese Erkenntnis ist wichtig – ist als reflektierendes, denkendes Lebewesen in der Lage, Einsicht in diese Zusammenhänge zu gewinnen. Er hat die Möglichkeit, sich auf das Grundrecht aller Lebewesen auf Leben zu besinnen oder – mit Schweitzer gesprochen – sich zur Ehrfurcht vor dem Leben zu bekennen.
„Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben, nur eines darf hinaus, das Licht schauen: das höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet.
Und diese Erkenntnis ist das große Ereignis in der Entwicklung des Seins. Hier erscheinen die Wahrheit und das Gute in der Welt; das Licht glänzt über dem Dunkel; der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht, das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz das Leben als solches zum Bewusstsein seiner selbst kommt ..., das
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