Albertas Schatten
gelesen haben, können Sie, Toby und ich ausführlich darüber sprechen.« Sie legte einen von diesen schweren Aktenordnern, prall gefüllt, vor Kate auf deren Schreibtisch. »Hier haben Sie Albertas Tagebuch, oder zumindest den Teil davon, der auf der Farm gefunden wurde. Ergänzend zu Albertas Tagebuch sind da alle Briefe, die ich Toby aus Massachusetts geschrieben habe und aus England während meines Zusammenseins mit Alberta. Sie sind nur soweit redi-giert, als Dinge herausgenommen wurden, die mit dem Fall nichts zu tun haben. Ich denke, sie werden Ihnen einen recht guten Eindruck von dem vermitteln, was vor sich gegangen ist. Eventuell auftau-chende Fragen kann ich dann später noch beantworten; aber ich glaube nicht, daß es viele sein werden.«
Charlie stand auf. »Das hier sind übrigens Kopien. Die Originale haben wir alle behalten, so daß Sie sich darüber keine Gedanken machen müssen, außer daß eben alles sehr, sehr vertraulich ist. Sie werden doch Lillian gegenüber nichts davon erwähnen? Zumindest jetzt noch nicht. Toby hat mir von diesem Problem erzählt, und ich verstehe es; ich mag Lillian. Nur für den Fall, daß Sie ›Lassen Sie es lieber bleiben‹ sagen wollen oder ›Ich glaube, das ist ein Fall für die Polizei‹ oder so ähnlich, wäre es mir lieber, wenn Sie im Moment mit niemandem darüber sprechen würden.«
Kate blieb noch eine Weile sitzen, nachdem Charlie gegangen war. Noch war Gelegenheit, sich mit Anstand aus der Angelegenheit zurückzuziehen. Na ja, dachte sie, ich werde die Sachen mal lesen.
Dann suchte sie die neue Akte, ihre alte Aktentasche, ihre Handta-sche und all diese wirren Gefühle zusammen, die einen am Feierabend zu überkommen pflegen, und machte sich auf den Heimweg.
3
A lbertas Tagebuch
Ich hatte immer gewußt, daß man mich eines Tages aufspüren würde, und doch war ich arglos und unvorbereitet, als die Besucher auftauchten. Wie jeder, der etwas verbirgt, habe auch ich zugelassen, daß meine Angst vor Entdeckung für eine kurze Zeit abnahm.
Ted hatte mir damals von ihnen erzählt und mit diesem Wissen kann ich heute rückblickend die Szene so rekonstruieren, als wäre ich dabeigewesen. Von der Stadt her werden sie einer Richtung gefolgt sein und dabei die Briefkästen und Häuser gezählt haben, und man wird ihnen gesagt haben, daß es die erste Farm ist, zu der sie kommen; dieser Teil war also nicht allzu schwierig. Sie müssen tatsächlich sehr unsicher gewesen sein, wo sie zuerst nachsehen sollten, ob in der Scheune oder im Haus oder auf dem Feld – jedenfalls, erzählte mir Ted, seien sie in die Scheune gekommen, als ob sie in einer Filmszene spielten. Vielleicht war ihre Vorstellung von Farmern auch ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert. Ted rührte Milchpulver für die Kälber an und bereitete das Futter für die Schweine vor, die er dieses Jahr aufzieht; und die Schweine quiek-ten. Die Kühe waren kurz zuvor gemolken worden, und ich kann mir den Geruch vorstellen, der die Besucher empfing: warme Milch, die den Katzen hingestellt worden war; Jauche und Dung; Schweine –
obwohl saubere Schweine weit weniger riechen, als man meint. Ted sagte, die Besucher seien in Dung getreten, der noch nicht wegge-spült worden war; wenigstens darüber habe ich mich gefreut.
»Wir suchen Alberta Ashby«, sagten sie.
»Ist hier nicht«, sagte Ted lakonisch. Er versucht, sich wie ein Dorftrottel zu benehmen, wenn solche Typen aus der Stadt ihm die Gelegenheit dazu geben. Die Farm gehörte Teds Großvater, und er ist dort aufgewachsen. Aber er ist bestimmt kein Dorftrottel, und seine Frau ist es auch nicht. Doch seit Sommergäste hier in der Gegend die Farmen aufgekauft haben, machen sich Ted und Jean einen Spaß daraus, die Blöden zu spielen. Ich finde, das schadet niemanden, und in diesem Fall bin ich sogar froh, daß er es getan hat.
»Sie heißen Ted Wilkowski?« haben sie gefragt.
»Hab’ schon immer so geheißen«, sagte Ted. Er rührte die Milch für die Kälber fertig an und begann, sie in die Boxen gleich neben der Scheune hinauszutragen, in denen die Tiere stehen. Die männlichen Kälber werden als Schlachtvieh aufgezogen, und sie stehen ziemlich eng in ihren Boxen, bis sie verkauft werden. Aber die Boxen sind groß genug, daß sie darin stehen oder liegen können, im Schatten. Es ist nicht so grausam, wie es sein könnte. Ich mag das nicht, aber eine Farm ist kein Platz für Leute mit sentimentaler Einstellung zu Tieren. Die Besucher sahen sich
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