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Albertas Schatten

Albertas Schatten

Titel: Albertas Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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damals klar, daß er tot war und die Muse, die ihn stützte, trauerte?). Cyril versicherte mir, dies sei ein Beweis dafür, daß die Shelley-Statue von einer Frau geschaffen worden war. Ich kannte die unterirdischen Durchgänge und die Schleichwege, auf denen man in die Colleges gelangen konnte, ohne von den allgegenwärtigen Pförtnern entdeckt zu werden, zumindest für eine Weile. Von dieser Stadt in Ohio ist mir nichts in Erinnerung geblieben, und die Erinnerung würde mir auch nichts nützen, da die Innenstadt eingeebnet worden ist und das Geschäftsleben sich nun in Einkaufszentren abspielt. Freudianer würden zweifellos sagen, ich hätte diesen Teil meiner Kindheit verdrängt. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, aber ich habe ihn nicht verdrängt; ich betrachte ihn als erledigt und erinnere mich deutlich nur an ein oder zwei Leute. Mit Ausnahme von diesen gehörte nichts zu meinem Leben. Das war woanders; in Oxford im Sommer und davor in meinen Fantasien.
    Und was war in den Jahren, bevor ich acht war, also vor den Sommern in Oxford? Ich weiß, daß ich die frühesten Jahre meiner Kindheit in England, in einem kleinen Landhaus in Devon verbracht habe. Ich erinnere mich an das Meer und die Osterglocken und an die Frau, die auf mich aufpaßte; einmal in der Woche fuhr sie mit mir in einer Ponykutsche in die Stadt; wir gingen zusammen einkau-fen, wobei wir für jeden Artikel ein anderes Geschäft aufsuchten, wie es in England üblich ist – Butter hier, Brot dort. Eines Tages sagte sie mir (kann ich mich daran erinnern? Ich war vielleicht fünf), daß mein Vater kommen würde, um mich heimzuholen nach Amerika. Hatte ich ihn schon damals gesehen? Ich erinnere mich daran, daß ich am Gartentor auf ihn wartete und sah, wie er aus dem Wagen stieg, mit dem er gekommen war. (Als ich in späteren Jahren ›Adam Bede‹ gelesen hatte, kam es mir so vor, als hätte Adams Mutter so auf sein Erscheinen am Horizont gewartet, wie ich an jenem Tag auf meinen Vater; ich mochte diesen Bezug nicht, da ich keine Frau sein wollte, die darauf wartet, daß ein Mann sie aus der Bedeutungslosig-keit errettet.) Wir nahmen ein Schiff, mein Vater und ich, zurück an einen Ort, an den ich mich nicht erinnere; meine Stiefmutter erzählte mir, sie hätte meinen Vater in Boston kennengelernt, und ich sei damals bei meinem Vater gewesen, aber ich habe meiner Stiefmutter nie geglaubt. Nicht, daß sie log; das habe ich nie gedacht. Ich glaubte nur nicht, daß sie zur Wahrheit über die meisten Dinge überhaupt einen Zugang hatte. Jetzt allerdings kommt es mir vor, als stimmte auch hier alles bei ihr.

    Der Mann und die Frau auf der Suche nach mir sind nicht zu-rückgekommen; sie haben mir einen Brief geschrieben. Ted hatte ihn in die Scheune gelegt, so daß ich ihn finden konnte, wenn ich zum Nachmittagsmelken kam. (Ich bekomme selten Briefe und habe Teds Angebot eines eigenen Briefkastens abgelehnt. Der zuständige Briefträger weiß, wo ich bin, und steckt meine Post in Teds Kasten. Es ist wenig genug: mein vierteljährlicher Scheck, gelegentlich eine Rechnung.) Dieser Brief war an Alberta Ashby, bei Ted Wilkowski, adressiert. Ich steckte ihn in meine Hosentasche und fuhr mit dem Melken fort. Es war einer der Tage, an denen ich allein war mit den Kühen, und ich dachte an frühere Zeiten – denen ich normalerweise nicht nachtrauere –, als man noch von Hand molk, den Kopf an die warme Flanke der Kuh gelehnt. Im Moment gab es keine Kuh in der Herde, die sich von Hand hätte melken lassen; da ich mir angewöhnt hatte, altes Brot für die Färsen auf den Weiden mitzunehmen, kannten sie mich und scheuten nicht, wenn ich in ihre Nähe kam.
    Ich ging in den Wald hinter meinem Haus, um den Brief zu lesen; es war kaum noch hell genug, aber ich wollte, daß mich der erste Schock im Freien traf, und mein Haus ein Ort friedvoller Zuflucht bleiben konnte. Der Gedanke daran, daß Erinnerungen an meine Tante und an Oxford wieder aufleben könnten, erregte und erschreckte mich – erschreckte mich, weil ich mein Leben so eingerichtet hatte, wie ich es mir wünschte, und weil ich meine Gedanken nicht in die Vergangenheit zurückwandern lassen wollte; ich wollte meine Gegenwart gestalten. Der Brief war unerwünscht, auch als ich begriff, daß er von meiner Tante handelte:

    »Liebe Miss Ashby,
    Harriet St. John Merriweather hat uns gebeten, Sie persönlich aufzusuchen und Ihnen einen Brief von ihr zu überbringen. Da wir den Eindruck hatten, Sie wollten

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