Albertas Schatten
selbstgerechter Narr. Wir fliegen Montagabend; Alberta fährt mit mir zum Flugplatz von Bradley – das ist näher, und ich möchte nicht nach New York hinein und wieder hinaus, was wegen der Hotels und Taxen und so weiter sehr kompliziert wäre; ich fürchte, sie könnte bei der ersten Gelegenheit schwankend werden. Ich werde sie einfach am Nachmittag auf der Farm einsammeln (sie wird das Melken versäumen, aber ich habe sie darauf hingewiesen, daß sie zum Abendmelken genau eine Woche später zurück ist, so daß sich das ausgleicht – welches Ehrgefühl sie doch hat), und nach einein-halb Stunden werden wir pünktlich zum Abflug am Flugplatz ankommen; keine Chance zum Entwischen. Ich werde keine Zeit haben, mich persönlich von Dir zu verabschieden, mein Liebling, und das bedauere ich sehr; aber Du verstehst bestimmt die Dringlichkeit.
Ich habe vor, in den kommenden Tagen wie ein Schutzengel über ihr zu schweben.
Liebster Toby,
ich hatte keinen Augenblick Zeit zum Schreiben, obwohl ich gehofft hatte, diesen Brief hinkritzeln zu können, während ich in Sinjins Haus auf das große Interview wartete. Ich hoffe nur, Du kannst ihn lesen; ich fürchte, Deine Arbeit hat nicht mit sich gebracht, daß Du unmögliche Handschriften gewöhnt bist; wir armen Biographen müssen uns daran gewöhnen. (Wie laufen die Dinge so bei Dar & Dar? Ich denke oft daran zwischen den dramatischen Momenten hier.)
Also, mein Lieber, wir kamen in der Morgendämmerung an, wie immer bei diesen verdammten Flügen, und machten uns auf den lästigen Weg durch den Zoll, die Einreisebehörde etc. (Eines habe ich Dir noch gar nicht gesagt; es hat sich herausgestellt, daß der Paß unserer Alberta, an den ich erst im allerletzten Augenblick gedacht hatte, völlig in Ordnung war. Ich habe den Verdacht, daß sie sich immer die Möglichkeit offengehalten hat, nach England zurückzu-fliegen, wenn sie die Lust dazu packt. Ein gutes Zeichen, finde ich.) Nachdem wir alle Hürden in Heathrow überwunden hatten, nahmen wir den Bus nach London, stellten unser Gepäck im Hotel ab und fuhren mit der U-Bahn zum Ladbroke Grove, wo Sinjin lebt. Ich wußte nicht recht, wie ich unsere Alberta auf die Begegnung vorbe-reiten sollte; ich konnte ihr nur sagen, daß das Haus etwas von einem Rattennest an sich hat. Ich sagte, es wäre das Heim eines Menschen, der an nichts anderes dachte als an das England von Elizabeth L, in allen Einzelheiten, und der, wie ich vermutete, meist selbst in jener Zeit lebte. Ich hatte daran gedacht, ihr Sinjin selbst zu beschreiben, beschloß dann aber, es nicht zu tun. Jedem anderen gegenüber hätte ich, entgegen meiner sonstigen Art, angedeutet, wenn auch sehr vorsichtig, daß Sinjin in keiner Weise den alten Ladies im Film und in BBC-Produktionen gleicht: weißhaarig und wohlfrisiert, gebeugt, mit knochigen, ausgeprägten Gesichtszügen. Aber ich war sicher, daß es Alberta bei ihrer eigenen unkonventionellen Art nicht einmal auffällt, wenn sie eine Frau trifft, der ihr Äußeres völlig gleichgültig ist – Hauptsache, ihre Arbeit war gut. Ich wollte es einfach den beiden überlassen, ob sie miteinander vorankamen oder nicht: Reife bedeutet, die Dinge geschehen zu lassen, mein Lieber – falls Du das noch nicht gemerkt haben solltest.
Habe ich Dir Sinjin beschrieben? Mir wird gerade klar, daß Du vielleicht gar nicht weißt, was ich meine. Sie ist ungefähr achtzig und brummelt vor sich hin, wie das die Alten gerne tun. Treppen bereiten ihr Schwierigkeiten, dennoch wohnt sie in einem engen, dreistöckigen Reihenhaus und zeigt damit, wie alle Engländer, ihre stolze Verachtung für jeglichen Komfort. Sie geht am Stock und beklagt sich über ihr Gedächtnis, das mir allerdings verdammt gut vorkommt, wenn auch eher auf die Zeit der Tudors beschränkt und die Belange ihres eigenen Lebens. Täglich beantwortet sie eine Flut von Briefen, zum Teil von Leuten, die etwas über Albertas Tante wissen wollen; wenn man bedenkt, daß sie auch noch alle Bücher im Druck hat, schafft sie das, soweit ich das beurteilen kann, besser, als man heute von den sogenannten Alten annehmen würde. Der springende Punkt jedenfalls ist: Sie ist fett, hat ein riesiges Doppelkinn und fast keine Haare mehr auf dem Kopf; was da noch ist, ist weiß.
»Schütter« wäre eine wohlwollende Bezeichnung. Sie hat enorm dicke Beine, die, wie ich annehme, ihre ohnehin schon vorhandenen Schwierigkeiten bei der Fortbewegung noch verstärken. Neunund-neunzig Leute von
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