Albertas Schatten
Unterschieden war, hatte sie doch oft den Eindruck, ein Besucher vom Mars würde sofort bemerken, daß Männer und Frauen verschiedenen Gattungen angehörten.
Ihr Zimmer, das sie schließlich nach einigen schwierigen Mani-pulationen mit der elektronischen Karte, die in Hotels als Zimmer-schlüssel dienen, betreten konnte, erwies sich als genauso unpersönlich und zweckmäßig, wie sie gehofft hatte. Dort standen mehrere Sessel und ein Tisch; das Bett, geeignet als Mantelablage, würde sie in unbenutztem Zustand nicht in Verlegenheit bringen. Man unterhält sich nicht gern mit völlig Fremden in einer privaten und persönlichen Umgebung. Bei Kongressen allerdings müssen Zimmer allen Zwecken dienen, auch der Aufnahme von neuen Beziehungen, seien sie nun sexueller Art oder nicht.
Sie stellte einen kleinen Koffer ab, den sie als Zeichen dafür mitgebracht hatte, daß das Zimmer belegt war; Susan hatte ihr erzählt, daß sie einmal wie Kate ein Zimmer genommen hatte, es nur tags-
über benutzen wollte, und als sie nach einer Abendsitzung zurückkam, um sich im Bad frischzumachen, den Raum an ein Pärchen vergeben vorfand; dieses ließ sich auch durch ihr nachdrückliches Klopfen nicht bei seiner Beschäftigung stören.
Kate ging wieder hinaus, um alkoholische Getränke, Sodawasser und Brezeln zu kaufen. Auf dem Weg nahm sie einen Plastikhalter und schob ihr Namensschildchen hinein. Am oberen Rand des Schildchens stand MODERN LANGUAGE ASSOCIATION, NEW YORK, NY und das Datum der Tagung. KATE FANSLER und der Name ihrer Universität standen in fast zwei Zentimeter hohen Bulletin-Lettern darunter. Normalerweise war sie eine Gegnerin von Namensschil-dern und allzu offenkundiger Identifikation – war das einer der Gründe, warum sie Kongresse mied? –, diesmal aber trug sie es sehr auffällig. Wenn sie schon inserierte, um gewisse Auskünfte zu erhalten, mußte der Empfänger dieser Auskünfte auch deutlich erkennbar sein.
Während sie im Spirituosengeschäft darauf wartete, daß sie an die Reihe kam, blätterte sie ihr Programm durch, um zu sehen, ob es am Abend eine Veranstaltung gab, an der sie teilnehmen wollte. Eine ganze Seite des Programms bot ihr für 21 Uhr eine Auswahl zwischen ›Phänomenologische Literaturtheorie nach der Reconstruction‹, ›Das Bild der Nacht im spanischen Mystizismus des sechzehn-ten Jahrhunderts‹ und ›Theorie der Autobiographien von Frauen‹.
Könnte das letzte Thema ihr einen Hinweis auf Alberta Ashby geben? Nachdem sie die Bezeichnungen der Tagungsräume notiert hatte, war sie mit ihren Einkäufen an der Reihe; sie brachte sie in ihr Zimmer und sah das rote Licht an ihrem Telefon blinken. Als sie die Vermittlung anrief, erfuhr sie, daß mehrere Nachrichten für sie hinterlassen worden waren, da aber die Mitteilungen schriftlich waren, mußten sie am Schalter in der Hotelhalle abgeholt werden.
Kate stand vor den überfüllten und viel zu selten fahrenden Aufzügen; als sie schließlich in einem stand, lauschte sie hingerissen den Gesprächen und beobachtete, wie emsig die Namensschildchen gelesen wurden. Ihr eigenes löste bei einer neben ihr stehenden Frau einen Ausruf aus. Auf deren Namensschild las Kate »Alina Rosenberg«. Kate begrüßte sie lebhaft, als der Aufzug beide zusammen mit der schubsenden Menge ausgespien hatte. Als sie in der überfüllten Halle eine Ecke erobert hatten, gaben sie sich die Hand.
»Ich war gerade auf dem Weg, Ihnen eine Nachricht zu hinterlassen«, sagte Alina. »Haben Sie jetzt etwas vor?«
»Nein, ganz und gar nicht«, sagte Kate, immer darauf aus, eine Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen; gleichzeitig empfand sie ein flüchtiges Bedauern über die entgangene Erleuchtung bezüglich des Problems der ›phänomenologischen Literaturtheorie nach der Reconstruction‹.
»Wollen Sie in mein Zimmer kommen?«
»Das wird wahrscheinlich das beste sein«, sagte Alina. »Ich bin in einem Doppelzimmer untergebracht.« Wieder gingen sie zu den Aufzügen und drückten hoffnungsvoll auf die Knöpfe. Abgelenkt durch ihre Unterhaltung, versäumten sie, sich bis zur Tür durchzu-kämpfen, und verpaßten so einige Aufzüge. Als sie sich schließlich in einen hineingequetscht hatten, sagte Kate: »Das ist sicherlich der schlimmste Teil des Kongresses.«
»Sie müssen in einer sehr glücklichen Lage sein, wenn Sie das glauben«, antwortete eine Stimme. Kate fühlte sich beschämt. »Der MLA-Kongreß ist ein Sklavenmarkt«, hatte Susan ihr gesagt, und Kate
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