Albertas Schatten
Maßstäben, die in jenem finstersten Teil Ohios galten, war ich daher kein ›richtiger Junge‹. Und wenn Sie nur das Geringste über Alberta wissen, dann wissen Sie, daß sie in diesem Sinne auch kein
›richtiges Mädchen‹ war. Oh nein, ich meine damit nicht, daß wir beide nicht ein ›normaler‹ Junge und ein ›normales‹ Mädchen waren, um mein absolutes Lieblingswort ›normal‹ zu gebrauchen. Wie dem auch sei, wir freundeten uns an; ich glaube, weil wir uns beide als Außenseiter betrachteten, ausgestoßen vom Rest der Stadt. Ehrlich gesagt, wir waren stolz darauf, Ausgestoßene zu sein. Sie wissen ja, Kinder sind merkwürdig. Wir haben nur Jungen, und ich muß zugeben, daß meine Frau und ich beim dritten ein wenig enttäuscht waren, aber ich glaube aufrichtig, daß wir es ihn nicht haben spüren lassen; ich wollte immer nur, daß sie sich wohlfühlen, gleichgültig, wie schlecht sie im Sport waren oder wie gut in Lyrik – können Sie sich vorstellen, was ich meine? Doch wie das Leben so spielt – alle drei sind sie kleine mistige Machos geworden, aber ich liebe sie von ganzem Herzen. Meine Frau sagt, das sei nur eine Entwicklungspha-se, ich aber glaube, es ist einfach der Druck der Gleichaltrigen.
Wenn Sie jedoch hinken, funktioniert Gruppendruck nicht, und ich hinkte. Noch etwas Kaffee? Ich scheine nur über mich zu sprechen und nicht über Alberta, aber ich nehme an, Sie erkennen, warum.«
Kate lächelte und hielt ihm die Tasse zum Nachschenken hin.
»Alberta und ich waren in derselben Klasse, und wir haben beide Latein gewählt, etwas, was in der Gegend und zu der Zeit unglaublich war. Wir hätten beide auch gern Griechisch gelernt oder sagten das wenigstens, aber da war nichts zu machen. Wir wurden Freunde.
Nicht in der Öffentlichkeit, denn wenn man uns zusammen gesehen hätte, hätte man uns aufgezogen. Nicht, daß es uns etwas ausgemacht hätte, wenn man uns für ›verliebt‹ gehalten hätte, aber wir hatten beide das Gefühl, unsere Freundschaft würde herabgewürdigt, wenn sie als das angesehen würde, was als einziges für unsere Umgebung zu existieren schien. Ich kann nie das Kapitel ›Der rote Abgrund‹ in dem Buch ›Die Spindel im Seidenkokon‹ lesen, ohne Alberta und mich als Maggie und Philip Wakem zu sehen, auch wenn sich Alberta nie von einem Wildfang in eine Schönheit verwandelt hat; und für mich selbst möchte ich annehmen, daß ich etwas weniger von einem Schwächling hatte als Philip. Aber wir waren so – Freunde, sogar bis in die Pubertät hinein. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wären wir auch später noch befreundet geblieben. Meine Familie zog dann nach New England um, und ich habe Alberta nicht mehr oft gesehen, obwohl wir einander noch eine Weile geschrieben haben; aber das schlief dann auch irgendwie ein. Ich wollte sie immer wiedersehen, aber es hat sich nie die Gelegenheit dazu ergeben. Ich hatte nicht erwartet, daß sie etwas mit dem Universitätsleben zu tun haben könnte. Deshalb ist mir Ihre Anzeige ganz schön in die Glieder gefahren.«
»Sie sind ihr demnach nie auf einem MLA-Kongreß begegnet?«
»Alberta? Niemals.«
»Können Sie mir etwas genauer erzählen, wie sie damals in Ohio war?« fragte Kate. »Sie haben mir schon eine Menge über Alberta erzählt, das ist mir klar, aber…«
»Was kann ich Ihnen noch erzählen? Wir lebten unter einem Bo-gen, an dessen Enden sich jeweils der Idealtypus des anderen befand; sie hatte kein Interesse an irgendwelchen Mädchendingen, was sie übertrieb, möchte ich sagen; aber übertrieben haben die anderen Mädchen in dem Alter damals auch. Und ich habe mir im Innersten meines Herzens immer gewünscht, wie die ›anderen‹ Jungen zu sein, wenn mir das auch nie bewußt war. Wir lebten in einer Art Nie-mandsland, so als ob die Begriffe Junge und Mädchen für uns keine Bedeutung hätten. Wir waren demzufolge der Meinung, wir seien die Besten von allen; wir waren voller Stolz. Wie sie war? Sie konnte alles, was ein Junge auch konnte, aber sie hatte das Feingefühl, das nicht vor mir herauszukehren. Es war ganz deutlich, daß sie nicht ihr Frausein gegen meine Behinderung ausspielen wollte. Kennen Sie Cathers ›Meine Antonia‹? Die Freundschaft zwischen Antonia und Jim Burden, dessen Name fast dem meinen gleicht, könnte Ihnen das etwas verdeutlichen. Aber ich komme immer wieder auf unsere Verbindung zurück, anstatt Alberta zu beschreiben. Vielleicht sollten Sie mir ein paar Fragen stellen.«
»Hat
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