Albertas Schatten
Erdoberfläche verschwindet, und niemand außer Charlie hat es bemerkt?«
»Die Farmersleute haben es bemerkt. Und du würdest dich wun-dern, wenn du wüßtest, wieviele Erwachsene verschwinden und verschwunden bleiben. Manche tauchen einfach unter; sie richten sich ein neues Leben ein und tauchen nie wieder auf. Manche kommen ums Leben. Deine Alberta erweckt ganz den Anschein, als hätte sie ihr gesamtes Leben darauf ausgerichtet, unterzutauchen, ein neues Leben zu beginnen.«
»Du meinst, sie hat unverbindlich gelebt. Keine großen Besitz-tümer, keine Liebesbeziehungen. Reed, was weißt du über Toby?«
fragte Kate nach einer Pause. »Und antworte mir nicht: ›Was wissen wir überhaupt über einen anderen Menschen.‹ Du weißt ganz genau, was ich meine.«
»Ehe könnte definiert werden als die Fähigkeit, die Sätze des Partners zu vollenden. Aber das gelingt wohl auch nur bis zu einem gewissen Grad. Meine Einstellung Toby gegenüber ist die, daß ich mein Leben für ihn verpfänden würde; wenn du mich aber fragst, warum, könnte ich dir keine Antwort geben. Wir alle wissen nur sehr wenig von Toby – ich glaube, weniger noch als von vielen anderen Menschen. Er ist einfach Toby, was in Wirklichkeit ganz und gar nicht einfach ist. Weißt du, meine Worte klingen wie deine. Vielleicht übertragen sich in einer guten Ehe Beobachtungen und Satz-strukturen auf den Partner, während in einer müde gewordenen Ehe das Aufspüren von Gegensätzlichkeiten im Vordergrund steht. Es macht Spaß, die Ehe zu definieren; ich fühle mich dabei beinahe so herausgefordert wie beim Scrabble.«
»Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll, Reed. Ich meine, was diesen Fall angeht«, fügte sie hinzu, um ihm zuvorzukommen.
Rasch berichtete sie von den Ereignissen des Tages.
»Warum warten wir nicht ab, was Lillian aus diesem Verführer Heffenreffer herausbekommt und was du morgen beim Frühstück über die junge Alberta in Ohio erfährst. Vielleicht hat ja Alberta ihn verführt.«
»Du hast nur noch Verführungen im Kopf«, sagte Kate.
»Um das festzustellen, mußt du nicht verheiratet sein«, lachte Reed. »Was aber wichtiger ist: Du Nachteule mußt morgen mit den Hühnern aus den Federn, um zu deinem aufregenden Frühstück zu gehen.«
Frühstück in der Suite eines großen Hotels im Stadtzentrum war für Kate eine völlig verrückte Vorstellung, aber sie mußte zugeben, daß James Fenton, der ganz ihrer Meinung war, nicht den Eindruck machte, als sei er zu dieser frühen Stunde schon angeheitert. Er hatte Saft, Kaffee und süße Brötchen bestellt (»Ich hoffe, Sie mögen sie; es ist alles, was in diesem Hotel aufs Zimmer serviert wird. Ich selbst mag nur Toast«) und entschuldigte sich höflich dafür, daß er sie so früh aus den Federn geholt hatte. »Wir geben den ganzen Tag über Interviews, und am Abend bin ich ausgebucht mit Gesprächen mit möglichen Kandidaten für die Universität. Wir gehören zu einem jener Fachbereiche, wo in etwa vier Jahren fast alle pensioniert werden; das ist der Verwaltung endlich klargeworden. Ich glaube, das ist an jeder Universität so, aber manche nehmen offensichtliche Not-wendigkeiten etwas früher zur Kenntnis. Ich bin praktisch der einzige meiner Generation in unserem Fachbereich. Aber Sie sind nicht hergekommen, um darüber mit mir zu sprechen.«
»Wir sind in der gleichen Lage«, sagte Kate und nahm den Kaffee entgegen. »Ich glaube, das ist überall so. Und nicht einmal die Tatsache, daß wir eine ganze Generation von Akademikern verloren haben, weil es keine Arbeit für sie gab – oder man das glaubte, was auf dasselbe hinausläuft –, hat daran etwas geändert. Es ist sehr freundlich, daß Sie sich für mich Zeit genommen haben. Ich bin fasziniert von Alberta Ashby und neugierig auf alles, was Sie mir erzählen können.«
»Wie erfreulich, daß jemand an meinen Lippen hängt, der nicht auf eine Anstellung hofft.« James Fenton lächelte. »Jahrzehntelang habe ich nicht an Alberta gedacht, dennoch war sie in meiner Jugend eine wirklich gute Freundin. Wie fühlten uns beide als Außenseiter in einer stinkenden Stadt in Ohio, deren einziger Vorteil darin bestand, daß wir einander gefunden hatten. Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben, hinke ich.« Kate nickte. Sein Hinken war sehr stark, und bei jedem Schritt knickte er deutlich ein. Diese Gehbehinderung machte ihn dennoch kaum langsamer.
»Als kleines Kind hatte ich Kinderlähmung«, fuhr er fort. »Nach den
Weitere Kostenlose Bücher