Albspargel
armen Leute gewesen sei: Keiner kommt mehr zurück! Jeder im Ort wusste das, und nicht nur in Tigerfeld!
Nur die jüdischen Menschen selbst wussten es nicht. Sie klammerten sich an mancherlei Hoffnungen: Wozu das viele Gepäck, Bücher, Schmuck, Kleidung?
Einer der älteren Herren hatte viele Bücher, die er in seinem Alterssitz nicht hatte missen wollen. Er vertraute sie vor seinem Abtransport meinem Onkel zur Aufbewahrung an, ebenso einen wunderschönen alten Kaukasierteppich. Den Versprechungen der Nazis, dass sie im Osten eine Heimat bekommen sollten, traute er nicht. Aber noch hoffte er auf Rückkehr.
Die Busse brachten am 19. August 1942 die alten Menschen wieder zur Bahn nach Kleinengstingen, und die fuhr sie nach Stuttgart zu den Viehwaggons, mit denen sie zum Verhungern oder ins Zwischenlager nach Theresienstadt oder direkt in die Vernichtungslager transportiert wurden.
Es trieb mich wieder und wieder hinaus zum Hochbehälter, gleichzeitig warnte mich jede Faser im Leib davor, mich dort sehen zu lassen. Ich gebrauchte mir selbst gegenüber die Ausrede, an die frische Luft zu müssen und schwang mich auf mein Klapprad. Richtung Aichstetten war immerhin nicht Richtung Tigerfeld, der Mord war im Aichstetter Esch geschehen.
Am dritten Tag nach dem Mord war der Himmel bedeckt. Die Welt war grau, die Hochfläche mit ihren schwarzen Waldstücken machte einen düsteren Eindruck. Erste Tropfen.
Zuerst fuhr ich wie jedes Mal langsam am Ortsschild Aichstetten vorbei Richtung Käppele und Wasserbehälter und blickte nach links, um den Sack zu finden. Aber da war kein Sack. Allzu oft konnte ich diese Suche nicht wiederholen. Es waren immer noch viele Menschen unterwegs. Die meisten standen wie erwartet um den Tatort, das Gestrüpp um den Höcker der Albwasserversorgung. Ich reihte mich auch heute ein und nannte mich dabei einen Idioten.
Zu sehen gab es nicht viel. Die Stelle war noch mit den weiß-roten Bändern abgesperrt.
Ein Mann trat auf mich zu. Ich hätte ihn für einen Albbauern gehalten, Wollmütze und blaue Windjacke, darunter einen schwarzen Wollpullover und eine schwarze Cordhose. Er mochte um die fünfzig sein.
»Herr Dr. Fideler?«
Seine Stimme klang hell. Er sprach unterländisch, Stuttgart.
»Der bin ich.«
»Kriminalhauptkommissar Hohwachter von der Polizeidirektion Reutlingen.«
Würde er mich verhaften? Die Situation hatte etwas bestürzend Komisches. Kaum hatte ich mich ein paar Mal gezeigt, da war ich auch schon verleumdet und angeklagt, und der Kriminalhauptkommissar stand vor mir, der mich festnehmen wollte.
»Ich würde gerne mit Ihnen reden.«
Was hatte ich mir vorgestellt?
»Es fängt an zu regnen, Herr Dr. Fideler«, sprach er, »treffen wir uns in ein paar Minuten in der
Krone
in Tigerfeld? Wenn Sie so nett wären. Bei einem Glas Bier redet es sich leichter.«
Das Eck oder das Rössle in Aichstetten wären mir lieber gewesen. Aber ich musste mich wohl fügen.
Zuerst redete er mit einigen Männern in Zivil, wohl ebenfalls Ermittlungsbeamte. Als ich mich in den Sattel meines Klapprades schwingen wollte, bat er mich in seinen Wagen. »Meine Leute passen auf Ihr Rad auf.«
Es regnete.
»Es ist ein Klapprad.«
»Gut, dann wird es Ihnen nachgebracht. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
Im Wagen, auf dem Beifahrersitz, kam ich gewissermaßen wieder zu mir. Meine Angst war lächerlich. Freilich, ich konnte verleumdet worden sein. Aber kein Kommissar der Welt würde einer bloßen Verleumdung so nachgehen, dass er mich geradezu unter Aufsicht nahm: Kommen Sie morgen früh auf das Polizeipräsidium und bringen Sie die Handschellen gleich mit.
»Sie sind Fachmann für Windforschung«, begann er das Gespräch in der
Krone
.
Hier bei Andrea Mazzuoli hatte er für ein paar Tage oder auch länger ein Zimmer belegt.
»Kein Mensch weiß, wie lange wir brauchen, um den Fall zu klären. Auf dem Land kann es schnell gehen, bis wir den Täter haben. Meist aber merken Sie, wie es Schicht um Schicht, in die Sie hineinbohren, härter wird, dazu immer unübersichtlicher, immer verwickelter. Und jedes Dorf hat seine eigenen Gesetze, und das, kann ich Ihnen sagen, ist richtig schwer.«
Wir saßen in der Wirtsstube. Der Kronenwirt hatte mir Zeichen gemacht, die Augenbrauen fragend nach oben gezogen und hatte uns stumm das Bier gebracht. Dann hatte er die Schultern hochgezogen und die Hände etwas ausgebreitet. Wollte er sagen, er könne nichts dafür? Oder etwas anderes? Wollte er mich
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