Albspargel
die Tatsache, dass er mich nicht nach dem Alibi fragte. Er hatte mir gleich zu Beginn kundgetan, was er schon ermittelt hatte, und hatte mir sogar die Skizze einer Grafik gezeigt, die er über das Beziehungsgeflecht im Dorf angelegt hatte. Ich sollte ihm helfen, in das Dorf hineinzutauchen, Schicht um Schicht.
Aber den wahren Grund hatte er nicht genannt! Denn ein Kriminalhauptkommissar setzt sich im Laufe seiner Ermittlungen nicht fast eine geschlagene Stunde zu einem beliebigen Windfachmann, um über Dinge zu reden, die er alle schon weiß. Vor allem, wenn ihm die Zeit davonläuft, draußen an jeder Ecke die Presse lauert und der Staatsanwalt Ergebnisse sehen will. Es ging bei dem Gespräch, stellte ich entsetzt fest, nicht um die ihm längst bekannten Inhalte des Gesprächs. Es konnte nicht anders sein: Es ging um mich, ausschließlich um mich, um nichts anderes. Diese Erkenntnis war klar wie die Ziffern und Zahlen auf meinem Rechner.
Was aber wollte er von mir?
Er wollte mich kennenlernen: Schön, Sie kennengelernt zu haben, hatte er zum Schluss gesagt. Auch das war ehrlich: Er wollte mich kennenlernen, und er hatte mich kennengelernt. Er hatte sich ein Bild machen können von mir. Das war sein Ziel.
Nur in einer Sache hatte er nicht die Wahrheit gesagt: »Gehen wir wieder an die Arbeit.«
Er war die ganze Zeit bei der Arbeit gewesen.
Woraus bestand dieses Ziel? Sicher wäre es für ihn nützlich, wenn er etwas von mir über das Dorf erfahren könnte. In erster Linie aber wollte er meine Person einschätzen können. Weshalb? Darauf gab es für mich nur eine Antwort: Ich war verdächtig. Und wenn er sich so viel Zeit für mich nahm, dann war ich einer der Hauptverdächtigen, wenn nicht sogar der Hauptverdächtige.
Oder sah ich Gespenster?
Es war vor dem Ersten Weltkrieg, als eine offene Pferdekutsche durch Tigerfeld fuhr. Sie war angekündigt worden, wahrscheinlich vom Büttel ausgeschellt. Jeder in den Dörfern, durch die das Gefährt gelenkt wurde, erwartete dieses Fahrzeug. Die Menschen drängten sich am Straßenrand und standen Spalier, als ob es König Wilhelm II. von Württemberg selbst wäre, der in offener Kutsche auf dem Weg von Stuttgart ins Oberland war.
Aber niemand rief hurra. Die Bauern standen und starrten.
Die Karosse, die sie sahen und von der mein Vater und auch mein Onkel immer wieder erzählt hatten, war zwar ebenfalls eine Staatskarosse, und es war auch hier der Staat, der sie lenkte – aber Fahrgäste, Herkunft und Zielort luden nicht zum Jubeln ein. Die Fahrgäste waren gefesselt. Es war eine Gerichtskarosse. Das Fahrzeug war offen, zur Abschreckung für jedermann: Zwei Mörder saßen darin, ein Mann und eine Frau, die Geliebte des Mannes. Man hatte sie so gesetzt, dass sie einander nicht sehen konnten. Die Kutsche brachte die beiden, streng bewacht von einer Reiterkavalkade, von Tübingen nach Ulm auf die Guillotine.
Die meisten Älbler auf der Strecke zwischen Engstingen und Zwiefalten, auch in Tigerfeld, kannten den Mann und die Frau, denen das Lebensrecht abgesprochen worden war. Sie waren beide aus Oberstetten.
Die Delinquentin war verheiratet, vielleicht unglücklich, wie der Fortgang der Geschichte nahelegt; denn Heiraten war vor hundert Jahren auf dem Land nirgendwo eine freie Angelegenheit der Liebe.
Der Übeltäter war nicht verheiratet. Von einer Frau des Mörders war in den Erzählungen nie die Rede. Freilich ist das kein Beweis: Frauen zählten damals weniger.
Die beiden verliebten sich ineinander. Je mehr diese Liebe wuchs, desto größer wurde auch der Hass. Hass auf alle Hindernisse, die der Liebe im Weg standen, Hass auf die Umstände, die ein offenes Bekenntnis unmöglich machten – an Scheidung war in den Zeiten unserer Geschichte auf dem katholischen Land nicht zu denken. Der anschwellende Hass konzentrierte sich ganz auf das Haupthindernis: den Ehemann.
Hatten Ehemann und Ehefrau sich vom ersten Tag an gehasst, vielleicht weil sie beide in diese Ehe gezwungen worden waren? Oder hatte die Frau gewissermaßen den Verstand verloren, als sie sich außerhalb der Ehe verliebt hatte? Vielleicht das erste Mal in ihrem Leben liebte? Oder hatte ihr Mann sie geschlagen? Die Erzähler berichteten nichts über solche Umstände.
Die Liebesleute beschlossen den Tod des Ehemanns. Dieser fuhr mit seiner Frau zum Holzmachen in das Tal zwischen Oberstetten und Pfronstetten, nahe der Landstraße, heute B 312 – plötzlich sprang aus einem Gebüsch der Liebhaber und ging
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