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Albspargel

Albspargel

Titel: Albspargel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günther Bentele
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Tigerfeld zurückkommen dürfen.
    Er ging, immer noch Hoffnung in den Augen: So schlecht und dumm kann kein Mensch sein, mochte er denken, dass er nicht hilft, wo er helfen kann und nicht einmal da handelt, wo es ihm selbst Vorteil bringt.
    Die Gedanken gingen ihren Weg, und sie gingen zum mutmaßlichen Mörder. War es der Wunsch, dass der Täter möglichst rasch überführt und ich damit entlastet wurde? Oder war es nur wissenschaftliche Neugier, die in jedem Geschehen die Ursache wissen will?
    Mazzuoli, so harmlos sich alles anhören mochte, hatte möglicherweise ein Motiv! Wenn er sich betrogen fühlte, was ich natürlich nicht wissen konnte, hatte er ein Motiv. Ich hatte Fritz nur noch aus der Erinnerung gekannt: Hatte er Jörg Fuchslocher und Andrea Mazzuoli hereinlegen und um ihr Geld bringen wollen? Immerhin war das möglich. Zwar kannte ich ihn bei aller Angeberei als zuverlässig und großzügig. Wenn er das alles aber längst nicht mehr gewesen war?
    Ich hielt entsetzt inne. War ich nicht drauf und dran, dasselbe mit ihm zu machen, was das Dorf vor zwanzig Jahren mit mir gemacht hatte? Anzeichen, Vermutungen, Spekulationen, irgendwelche voneinander ganz unabhängigen Äußerungen, scheinbar Zusammenpassendes, in einen Topf zu werfen, Vorurteile zu kneten, Verdacht daraus zu kochen und Verurteilungen zu backen!

Die Männer und Frauen, die im Laufe des Frühjahrs 1942 vor dem Tigerfelder »Schloss« den Bussen entstiegen, waren wohlgekleidete ältere Herrschaften mit reichem Gepäck. Menschen, die sich die Ruhe des Alters verdient hatten.
    Aber es waren Juden.
    Juden hatten in diesem Staat weder ein Recht auf Kindheit noch auf Jugend oder gar auf Alter. Das Tigerfelder »Schloss« war ihnen zwangszugewiesen, ihr Zuhause hatte man ihnen weggenommen. Das Hab und Gut, das sie bei sich hatten, wurde nur geduldet, um sie zu täuschen, sie sollten an eine glückliche Zukunft glauben und somit leichter lenkbar sein.
    Die NS-Behörden hatten im Winter des Jahres 1941/42 das Tigerfelder »Schloss« zum jüdischen Altersheim bestimmt. Der Grund war nicht Fürsorge für die jüdischen Mitbürger, sondern der rassistische Wetteifer, die deutschen Städte möglichst rasch judenfrei zu machen.
    Die grauen Busse kamen vom Bahnhof in Kleinengstingen, wohin man die alten Menschen aus Stuttgart, Reutlingen, Heilbronn, Schwäbisch Hall und anderen Orten mit der Eisenbahn gebracht hatte.
    In dem stattlichen Gebäude, das die Tigerfelder »Schloss« nennen, hatten vor dreihundert Jahren die Alten, Kranken und Armen in weitem Umkreis vom Kloster eine Heimat und, nach ihrem frommen Tod, die Aussicht auf das ewige Leben erhalten.
    Mein Onkel hatte vom Tigerfelder Schultes den Auftrag bekommen, die Wasserleitungen und Kloanlagen im neuen Altersheim zu prüfen und zu überwachen. Es war nicht Sorge um die Juden, die den Schultes dazu bewegte, sondern die Angst vor Seuchen.
    Als er das »Schloss« betrat, sah sich mein Onkel Gruppen von insgesamt über vierzig alten Menschen gegenüber, vor allem der Leiterin dieses seltsamen »Judenaltenheims«, einer feinen alten Dame, Frau Straßburger. Sie alle fragten ihn besorgt nach Essen. Sie hatten auf dem Transport hierher ihre eigenen Vorräte verzehren müssen. Die Rationen, die sie hier bekamen, waren nicht fürs Überleben gedacht.
    Manche der alten Leute versuchten im Ort zu betteln, aber das Wenige, das sie zusammenbekamen, machte nicht einmal die Bettler satt. Die Furcht vor den NS-Behörden war bei den Dorfbewohnern groß.
    Mein Onkel, der, schwergewichtig und massiv, mit rotem, vierkantigem Schädel und mit Fäusten wie pralle Kartoffelsäcke zum Jähzorn neigte, bezwang den Zorn, er bezwang auch die Bedenken meiner Großmutter und meiner Tante. Er brachte nachts – niemand durfte etwas davon merken – den Juden Brotlaibe, Butter und Käse, auch immer wohl einige Kannen Milch. Über vierzig alte Menschen galt es einigermaßen zu versorgen. Er war halbe Nächte unterwegs und riskierte viel. Einige Juden lernte er näher kennen, zum Beispiel die alten Herren Dr. Straßburger und Dr. Nördlinger, wenn ich mich richtig erinnere.
    »Das waren feine Menschen«, berichtete die Tante.
    War sie bei den nächtlichen Besuchen dabei? Geredet wurde nie davon.
    Mein Onkel ahnte oder besser: wusste, dass seine Schützlinge nicht mehr zurückkämen von da, wohin man sie schließlich deportierte. Auch meine Tante wusste es, und meine Großmutter sagte oft, wie schrecklich für sie der Anblick der

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