Albspargel
unterbrochen.
»Die Scheidung ging nicht von Ihnen aus?«
Ich schwieg.
»Und Sie konnten nun dank der Windkraftanlage wieder zu dem geliebten Ort gehen. Ich verstehe Sie gut, Herr Dr. Fideler. Es gibt Orte«, sagte er geradezu schwärmerisch, »die liebt man wie eine Frau.«
»Amelie«, entfuhr es mir zu meinem Entsetzen.
»Amelie?«, lächelte er, »warten Sie, Amelie? Tigerfeld? Ich komme jetzt nicht darauf.« Er hatte die Stirn in Falten gelegt.
Ich schwieg verblüfft.
»Wissen Sie, ich studiere die Akten in unserem Archiv, bevor ich die Ermittlungen in einem Fall aufnehme. Ich lese, was an dem betreffenden Ort schon alles geschehen ist. Es ist eine gute Einstimmung. Man schmeckt den Ort gewissermaßen auf der Zunge, bevor man ihn betritt. Wissen Sie, das ist der Genius Loci, wenn ich es recht betrachte.«
Ich heuchelte Verständnis und konnte dem Kriminalhauptkommissar nicht in die Augen sehen. Er wusste alles und spielte Theater.
»Die meisten Tatorte sind jungfräulich«, redete er weiter, »man überschätzt die Häufigkeit von Verbrechen, vor allem von Mord. Das macht das Fernsehen, es verbreitet Tatorte und Schauplätze. Aber die meisten dieser kleinen Gemeinden im Land sind jungfräulich, was große Verbrechen angeht.«
»Tigerfeld ist nicht jungfräulich«, sagte ich nun entschlossen und mit fester Stimme, »es gab hier vor zwanzig Jahren schon einen Mord.«
Es war jetzt besser zu reden, sagte ich mir, alles andere würde nach Flucht aussehen und Verdacht wecken. Und – ich konnte ja frei über alles reden. Ich war ja frei von Schuld! Es war ja aktenkundig.
»Ja, richtig, Amelie, Sie sagten es, und es stand in den Akten. Ein ungelöster Fall«, sagte er, »und Mord verjährt nicht. Hieß sie nicht Amelie Riegeler?«, schloss er fröhlich.
Ich redete und redete. Ich erzählte alles. Ich erzählte sogar von meiner Angst, erneut verdächtigt zu werden. Er hörte zu, sehr aufmerksam zu. Gelegentlich stellte er Fragen, die mich noch mehr verwirrten.
So fragte er nach meinem damaligen Alibi, wobei sich herausstellte, dass er es schon kannte. Er fragte auch nach dem Tatort, den er, so schien es, in Zweifel zog. Insgesamt aber hörte er fast nur zu, die Hände gefaltet.
»Pech, ausgerechnet jetzt nach Tigerfeld zu kommen«, sagte er schließlich, »wenn hier der zweite Mord geschieht. Aber keine Angst, so schnell schießen die Russen nicht.«
Heißt es nicht: Schießen die Preußen nicht?, dachte ich verwirrt und merkte, wie ich langsam die Kontrolle verlor.
Was hatte mir der alte Hochstecher nachgerufen: »Hat man dir nicht gesagt, dass du dich in Tigerfeld nie mehr blicken lassen sollst?«
In der Wirtsstube war es dunkel geworden, die Türe nach draußen stand einen Augenblick offen; es regnete in Strömen. Ein windstiller Regen, wie er hier oben nicht allzu häufig ist: Warmfront.
»Es regnet«, sagte ich laut, um nicht zu schweigen. »Vor der Front«, fügte ich unsinnigerweise noch hinzu.
»Ich weiß«, sagte dieser allwissende Herr Hohwachter, »bei Kaltfronten regnet es dafür hinter der Front – ich müsste Sie eigentlich nach Ihrem jetzigen Alibi fragen – Routine, Sie wissen das. Aber ich frage Sie nicht, ich kann ja die anderen alle, die in dieser Nacht hier unterwegs waren, auch nicht fragen. Geht auf meine Rechnung!«, rief er dem Wirt zu, der an der Theke vielleicht alles mitgehört hatte.
»Schön, Sie kennengelernt zu haben. Dann gehen wir mal wieder an die Arbeit.« Damit erhob er sich, grüßte und ging.
Ich blieb sitzen, alleine, was mich wunderte, denn Andrea Mazzuoli stand immer noch hinter der Theke. Aber er blieb stumm wie ein Fisch. Alles schien mir plötzlich unwirklich, der stumme Wirt, der Regen draußen, die Stille im Raum, Herr Hohwachter, der mich offenbar nach Strich und Faden ausgehorcht hatte.
Ein Blick auf die Uhr über dem Tresen: Fast eine Stunde hatte Kommissar Hohwachter mit mir verbracht. Hatte er irgendetwas erfahren, was er nicht schon gewusst hatte?
Ich zwang mich zur Ruhe, ich war Wissenschaftler.
Die Akte Amelie Riegeler hatte er schon vor unserem Gespräch gekannt. Er hatte es aber erst spät zugegeben.
Gespräch? Das war kein Gespräch! Er hatte mich ausgefragt, und ich hatte es bis fast zum Schluss nicht gemerkt. Das war kein Gespräch auf Augenhöhe gewesen. Das war ein Verhör oder besser eine Vernehmung, wie das heute heißt. Aber er hatte doch immer alles bereitwillig offengelegt: seine Absichten, seinen Wunsch nach meiner Mithilfe,
Weitere Kostenlose Bücher