Albspargel
Mutter hat nie mit mir darüber geredet.«
»Auf denn zu Tante Helene!«, rief ich übertrieben begeistert.
Mal sehen, dachte ich, als wäre es ein Spiel, ob alles zusammen ein verlogenes Gutachten wert ist, was mir von Franziska und ihrer Tante geliefert wird.
Und die Wissenschaft?
Franziska redete noch vom Weg zwischen der Fundstelle der Leiche im Hart und der Kiesgrube. »Alles Wald, erst am Winkel kommst du heraus, wenn du ins Annaleu gehst, und von dort ist es nicht mehr weit und sehr einsam. Sagt doch auch etwas, oder?«
»Nur Schuhe?«, fragte ich, als wir im Wagen saßen.
»Wie gesagt, wir waren noch gar nicht auf der Welt oder noch nicht richtig, Jörg und ich.«
Beim Weiterfahren durch das Geisinger Hart, einem sehr düsteren Wald, kamen mir, trotz aller Spannung, Erinnerungen an Geschichten, die über meinen Urgroßvater Pelagius erzählt wurden und die mit Geisingen zu tun hatten.
Pelagius Fideler war als Bauer ein für ländliche Verhältnisse seltener Büchernarr, der gerne lachte und auch selbst Geschichten erfand. Wem die Phantasie ständig Geschichten gebiert, beim Mähen, Pflügen Eggen, Säen, Melken, Säcke tragen, Stallmisten und was sonst noch im Alltag geschieht, der braucht Zuhörer, die aber in einem Dorf schwer zu finden sind. So erfand er einen seltsamen Verein, vielleicht den seltsamsten, der je auf der Alb gegründet wurde und von dem man noch lange redete: einen Lügenverein!
Wie er es angestellt hat, Gleichgesinnte zu finden, weiß ich nicht. Jedenfalls ist dieser Lügenverein eine Tatsache. Die Mitglieder – Anzahl unbekannt, aber viele werden es nicht gewesen sein – trafen sich nicht in der
Krone
in Tigerfeld, auch nicht zu Hause, wo die Ehefrau oder Kinder zuhörten: Sie wollten ihre Geschichten frei erzählen, ohne sich irgendwelche Kommentare oder das verständnislose Lachen der Nachbarn anhören zu müssen. Deshalb trafen sie sich alle vierzehn Tage an einem Donnerstag im
Hirsch
in Geisingen.
Den ganzen Abend wurden Lügen erzählt, dazu wurde getrunken und gevespert, schließlich war man ja zu Fuß von Tigerfeld durch das Geisinger Hart nach Geisingen gekommen. Wenn nun jeder seine Geschichte losgeworden war und die Balken an der Decke sich anfingen zu biegen, wurde abgestimmt, wer die unglaublichsten Lügen erzählt hatte. Dem Sieger bezahlten zum Schluss die anderen Lügner die Zeche.
Mein Urgroßvater wird oft gewonnen haben. Aber der Verein hätte keinen Bestand gehabt, wenn immer er der Sieger gewesen wäre. Ob er nun schlau und geschickt genug war, unauffällig andere gewinnen zu lassen, oder ob es auf der Alb noch weitere geniale Erzähler gab, muss dahingestellt bleiben.
Die Vergangenheit ist ja selbst in der eigenen Verwandtschaft oft vieldeutig. Da war mein Onkel, der den Juden 1940 heimlich Essen gebracht hatte. Doch ich habe ihn später wenigstens zweimal, woran ich mich auf dieser seltsamen Fahrt nach Geisingen plötzlich wieder erinnerte, das Wort »Saujuden« sagen hören. Es plagte mich oft: War es die verbreitete Redensart seiner Jugend, die er gedankenlos wiedergab? Wogegen dann im Ernstfall sein natürliches Erbarmen stand? Oder wollte er einfach Widerspruch hören von mir? Ich war acht.
Eine lebhafte ältere Dame, Mitte sechzig, öffnete uns in Geisingen die Türe – die Gesundheit in Person. Wenn sie tatsächlich Herzbeschwerden hatte, hatte die Natur sie jedenfalls sehr geschickt verborgen. Franziska hatte mich angelogen!
Unbeabsichtigt? Dazu war sie viel zu klug und raffiniert. Was dann? Lügengeschichten? Ich fand nur eine Erklärung: Ich sollte merken, wie sehr sie mich in der Hand hatte, ihre Art, mit mir zu spielen, sollte mir beweisen, dass sie den Kampf auf jeden Fall gewinnen würde. Wahrheit oder Lüge, gleichgültig – der Kern der Details über das Verbrechen musste stimmen. Dass ich jeden Schwindel bemerken würde, damit musste sie rechnen. Ich konnte also, das war mir klar, von der Tante wirklich wichtige Informationen erwarten. Dabei war die Geschichte mit den Schuhen schon für sich allein sensationell.
Frau Helene Strauß war eine füllige, aber elegante Dame mit vielen grauen Löckchen auf dem Kopf. Sie trug eine Brille mit dünner Fassung. Nach Geisingen, einem winzigen Nest auf der Hochfläche der Alb, passte sie nicht – eher in ein Café auf der Königstraße in Stuttgart oder in Zürich. Franziska hatte erzählt, dass sie in Sigmaringen mit einem leitenden Beamten verheiratet gewesen war; nach dessen frühem Tod vor
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