Albspargel
da ja nur den Umriss gegen die Dunkelheit, der Mann war ganz normal. Ich meine, dass er nicht zu klein und nicht zu groß war, höchstens gedrungener. Sie waren es nicht. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Und die Polizei?«, fragte Dr. Hagenbach. »Ihre Großmutter hat doch sicher alles gemeldet. Sie war ja gewissermaßen außer dem Mörder der letzte Mensch, der Frau Riegeler noch lebend gesehen hat.«
»Wie gesagt, ich war neun, meine Base sechs. Auch Anneliese hat den Mann nicht erkannt, sie hatte ihn ja wie ich auch nur von hinten gesehen. Ich habe neulich nach dem zweiten Mord mit ihr geredet, Anneliese ist in Sulz am Neckar verheiratet und hat zwei Kinder. Sie wusste noch weniger als ich. Ja, ich musste sie überhaupt erst einmal wieder daran erinnern.«
»Die Polizei«, drängte Dr. Hagenbach, »es war doch wichtig!«
»Ihre Großmutter muss doch die beiden von vorn gesehen und sie erkannt haben. Sie hat doch nicht wie Sie und Ihre Base nach Gespenstern Ausschau gehalten. Sie hat doch auch laut gegrüßt.«
»Ich habe jedenfalls nicht bemerkt, dass sie zur Polizei gegangen ist. Sie hätte sich gescheut, das weiß ich, und im Ort wäre davon geredet worden. Das ist ganz sicher. Also hat sie eher keine Aussage gemacht bei der Polizei.«
Ich hätte es erfahren, wenn es eine solche Aussage gegeben hätte.
»Aber es war doch Mord!«, drängte Dr. Hagenbach weiter.
»Auffallend ist für mich, aber eigentlich erst jetzt, dass in der Familie kaum darüber geredet worden ist. Uns Kindern sagte man, dass das nichts für Kinder ist, und es wurde uns verboten, über den Mord zu reden.«
Denn es war ja nicht nur der Mord allein, es war ja auch eine Vergewaltigung!
»Sie sind also fest davon überzeugt, dass Ihre Großmutter keine Aussage gemacht hat?«, fragte Dr. Hagenbach.
Seine Oma hätte mich entlasten können, im ganzen Dorf. Sie hatte es nicht getan, sie hatte geschwiegen. Das stand fest. In mir wuchs die Erregung: Es gab Zeugen, jemand hatte meine Amelie gesehen und ihren Mörder, kurz vor ihrem schrecklichen Ende.
»Ihre Oma lebt nicht mehr?« Mein Kollege führte den Faden weiter.
»Sie ist vor elf Jahren gestorben. Von den Ereignissen um Frau Riegeler hat sie nie mehr gesprochen.«
»Haben Sie es versucht, sie darauf anzusprechen?«, bohrte Dr. Hagenbach nach.
»Ich habe es einige Male probiert. Aber sie war immer abweisend, so nett sie sonst sein konnte oder eigentlich immer war in ihrem Häuschen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn mein Opa noch gelebt hätte. Aber meinen Opa habe ich ja gar nicht mehr kennengelernt. Mit meiner Mutter konnte ich schon gar nicht darüber reden; sie war am schlimmsten. Als ich einmal mit dem Mord anfing und Fragen stellte, schrie sie mich an und schickte mich in den Stall. Ich erinnere mich gut.«
»Ihre Mutter lebt noch?«
»Nein, schon vor vier Jahren gestorben. Sie war sehr krank.«
Hans Egle war offenbar ein geradliniger, aufrichtiger Mensch.
»Es tut mir heute leid, dass Sie von meiner Oma damals nicht entlastet worden sind, Herr Dr. Fideler. Ich wollte Ihnen das unbedingt einmal sagen, auch dass ich Sie entlasten kann, wenn es nötig sein sollte. Und so, habe ich gedacht, hat ja meine Aussage vielleicht doch noch einen Wert für Sie.«
»Im Ort? Haben Sie in Tigerfeld darüber gesprochen?«
Dr. Hagenbach hatte das Gespräch jetzt ganz auf seine Seite gezogen. Ich war ihm dankbar.
»Nein«, sagte Hans Egle und sah auf den Boden, »mit niemand, nie, ich war ein Kind und meine Mutter –«
»Ja«, warf ich ein, »und offenbar ist nichts mehr zu finden. Wir müssen damit zufrieden sein. Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar. Sie können sich kaum vorstellen, wie wichtig das alles ist für mich. Vielen Dank.«
»Nein«, widersprach er, »da ist noch etwas.«
Er schwieg, und es war deutlich, wie er sich um die richtigen Worte bemühte. Offenbar hatte er gespürt, wie schwer mir das Reden fiel.
»Schuhe. Da war noch etwas mit Schuhen. Von Schuhen wurde in diesem Zusammenhang ebenfalls geredet damals in ganz Tigerfeld. Ich weiß aber nichts mehr von dem Gerede. Nur an die Schuhe erinnere ich mich und wie sie meine Oma bekam, da war ich dabei. Habe aber erst später überlegt, dass sie vielleicht etwas mit der Sache zu tun haben.«
Schuhe!
»Meine Oma lebte ja im Pfründnerhaus etwas abseits.«
Pfründner nennt man auf der Alb den Bauern, der an den Sohn abgegeben hat, meist leben er und die alte Bäuerin, die Pfründnerin, in einem kleinen Haus, dem
Weitere Kostenlose Bücher