Albspargel
Altenteil, das man Pfründnerhaus nennt. Ich kannte das hübsche Häuschen der alten Frau Egle am hinteren Ende einer Wiese, die auf ihrer Vorderseite an die Bundesstraße grenzt. Heute stand es leer, die Fenster waren zum Teil eingeworfen.
»Einen oder zwei Tage nach dem Mord, ich weiß es wirklich nicht mehr genau, als das ganze Dorf durcheinanderwimmelte wie in einem Ameisenhaufen, fand ein Nachbar im Wald ein Paar Schuhe und brachte sie meiner Oma, Damenschuhe – die seien noch zu gut, um sie wegzuwerfen. Ob sie ihr passten? Meine Oma sah mich stehen und schickte mich sogleich in den Dorfladen, um ich weiß nicht was einzukaufen.«
»Wo hat der Nachbar sie denn gefunden?«
»Das habe ich noch mitbekommen: Beim ehemaligen Eiskeller des Kronenwirts im Alten Hau.«
Der Alte Hau ist ein Wald, der das Hart nördlich des Kettenacker Wegs begrenzt.
»Wer war dieser Nachbar? Alt, jung, zuverlässig?«
Dr. Hagenbach war sachlich und nüchtern.
»Melchior Niklaß. Auch ein Pfründner. Ich weiß nicht, ob er verheiratet war. Ein Mann, der die meiste Zeit im Wald verbrachte, es wurde darüber geredet. Was er dort tat, weiß ich nicht. Alt? Sicher weit über siebzig, würde ich heute aus der Erinnerung sagen. Beschwören kann ich es natürlich nicht. Er galt als absonderlich, heute würde man wohl sagen: gestört.«
Den Eiskeller des Kronenwirts kannte ich natürlich. Wir waren als Kinder oft darin herumgeklettert; es handelte sich um eine Ruine und galt als unheimlich. Die Franzosen hatten 1945 in unmittelbarer Nähe dem erst vierzehnjährigen Matthes Blank in den Rücken geschossen, der auf Zuruf nicht stehen geblieben war. Der Junge war auf der Stelle tot. Darüber war im Ort noch viele Jahre geredet worden. Die Eltern hatten sich schuldig gefühlt, weil er gedacht hatte, dass er bestraft würde, wenn er zu spät nach Hause käme, so vermutete man jedenfalls – deshalb sei er auf die Aufforderung der Soldaten hin weggerannt.
Die Besatzungssoldaten hatten dann das Gebäude angezündet, das über dem Eiskeller errichtet war, in dem der Kronenwirt das Eis zum Kühlen des Biers lagerte. Er schnitt es im Winter aus dem Eispanzer der Neuhüle und sägte es in lange Quader, die im Sommer auf den Bierfuhrwerken gebraucht wurden.
»Der Melchior hatte die Schuhe beim alten Eingang zum Eiskeller aufgelesen und mitgenommen. Er sagte, weil man so pfenniggute Schuhe nicht verkommen lassen darf.«
Der alte Eingang zu diesem Eiskeller, erinnerte ich mich, war zwar halb verschüttet, aber wir Jungen hatten einen Zugang gefunden, von dem ich jedoch nicht mehr wusste, ob es ihn immer noch gab. Neben der Ruine des alten Eiskellers war schon anfangs der Achtziger eine Hütte errichtet worden, der neue Eiskeller, in dem sich junge Leute trafen, vor allem die Mitglieder der Tigerfelder Feuerwehr. Auch Geburtstage und andere Feten wurden hier gefeiert. An normalen Arbeitstagen stand das Gebäude meistens leer. Jeder wusste aber, wo der Schlüssel zu bekommen war.
Hans Egle hatte die Schuhe nicht mehr gesehen, musste aber am nächsten Tag wieder nach Pfronstetten zurück, weil es in Tigerfeld zu gefährlich sei für einen Jungen von neun. Seine Mutter war sehr streng mit ihm gewesen.
»Man hat doch aber«, schloss er, »die Schuhe von Frau Riegeler später in der Kiesgrube gefunden. Zumindest wurde davon geredet, auch in Pfronstetten. Wir Kinder hörten mit spitzen Ohren zu. Übrigens müssen Sie da Franziska Fischer fragen oder ihre Tante in Geisingen, der Name fällt mir gerade nicht ein. Die müssen viel mehr wissen als ich. Hat diese Tante nicht die Schuhe sogar gefunden in der Kiesgrube?«
»Frau Helene Strauß«, sagte Dr. Hagenbach, ganz in der Rolle des Detektivs.
Die Schuhe meiner Freundin Amelie! Wir hatten sie zusammen gekauft an einem sonnigen Sommernachmittag in Weingarten. Es waren Schuhe zum Einkaufen oder Bummeln, keine Schuhe für den Wald. Sie hatte beim Bummel geredet und geredet, gezwitschert wie ein liebliches Vögelchen.
»Erinnern Sie sich an Details? Absätze, Farben? Größe? Muster?«
»Es waren normale Schuhe, anders kann ich sie nicht beschreiben. Vielleicht braun.«
Die Schuhe, die wir gemeinsam gekauft hatten, waren blau gewesen, ich erinnerte mich, als wäre es gestern gewesen. Ein dunkles Blau, das wohl damals gerade in Mode war. Es gab auch ein kleines Muster. Ich wusste natürlich nicht, wie die Schuhe aussahen, die man in der Kiesgrube gefunden hatte. Ich wusste von dieser Tatsache ja erst
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