Albspargel
gestritten, und wir waren völlig vergessen. Auch wurde über das Wetter gejammert und den kalten Winter, der nach irgendeiner Illustrierten zu erwarten war: Die Leitungen würden gefrieren und platzen, in den kalten Ställen würde das Vieh krank, und im Haus müsste man zu viel Holz verbrennen. Auch würde die Wintersaat auswintern. Dann jammerten sie über einen zu warmen Winter, der ebenfalls kommen konnte – was weiß man schon? Die Wühlmäuse würden nicht verrecken und das Unkraut im Frühjahr auf den Äckern weiterwachsen; der Austrieb würde zu früh erfolgen und bei einem normalen Frühjahrsfrost, den man hier oben immer erwarten konnte, wäre dann alles kaputt.
Kurz bevor wir aufbrachen, wurden die Stimmen auf einmal leise: Frau Graßner - sei in das Krankenhaus nach Riedlingen gekommen; und jeder staunte, wie sehr der nichtsnutzige Sohn Ernst sich plötzlich um seine Mutter kümmerte. Das meiste verstanden wir nicht, weil ab jetzt zu leise geredet wurde.
Auf der Hochfläche der Alb kann es geschehen, dass der Boden unter den Füßen nachgibt, einstürzt und Weidevieh, Pferde, Kühe samt Wagen, Gespanne samt Pflug und Pflüger plötzlich um Haus- oder gar Turmhöhe nach unten sinken, meist aber fallen, sanft oder unsanft, oft tödlich. Unzählige Senken berichten von solchen Ereignissen.
Eine solche für die Alb typische flache Senke, man nennt sie Dolinen, zieht sich vom Butzenstein und Auchtweidle nach Süden dem Annaleu und dem Winkel zu, das Hasental.
Meine Großmutter hat uns oft weitere Schauer über den Rücken gejagt: »Das Vieh, das früher nachts im Hasental geweidet hat, hast du manchmal am Morgen tot im Gras gefunden, starr und steif.« Nach einer Pause: »Und an keinem Tier hat man jemals auch nur die geringste Verletzung gefunden.«
Lange hatten wir Kinder Herzklopfen, wenn es ins Hasental ging.
Heute als Meteorologe weiß ich, dass es auf der Albhochfläche Kälteseen gibt. Von ihnen aus verbreitet sich oft Nebel. Es sind tiefste Stellen der Flur, in denen durch zuführende weitere Senken die kältere Luft der Umgebung zusammenströmt, aber nicht mehr abfließen kann. Die Temperaturen sinken in diesen Kältestaus bei bestimmten Wetterlagen oft dramatisch und manches Mal so tief, dass das Vieh über Nacht erfriert.
Für die Bauern aber war es der Teufel, der den Boden einbrechen und das Vieh in der Nacht verrecken ließ.
Als Dr. Hagenbach und ich an einem Freitagmorgen noch beim Frühstück in der
Rose
in Pfronstetten saßen, trat ein Bauer zu uns. Ich kannte ihn nicht, ich kannte in Pfronstetten nur wenige Bauern mit Namen.
Er sagte mit gedämpfter Stimme und schiefem Blick auf Dr. Hagenbach: »Herr Dr. Fideler«, seine Stimme klang respektvoll, »ich wollte schon immer mit Ihnen darüber reden. Könnte ich Sie alleine sprechen? Es geht um meine Oma, und es ist mir wichtig.«
Oma?
»Ich habe keine Geheimnisse vor meinem Kollegen.«
»Mir soll es egal sein«, meinte er und stellte sich vor: »Egle, Hans Egle, Pfronstetten, Milchviehzucht.« Er lachte schüchtern.
Hans Egle, stellte sich heraus, war vier Jahrzehnte jünger als ich und war als Kind oft nach Tigerfeld gekommen, weil die Familie Egle dort Verwandte hatte.
»Ich war neun, als das mit Amelie Riegeler geschehen ist«, sagte er.
Er wurde leise. »Kann ich wirklich frei –«
Elektrisiert versicherte ich es ihm: »Setzen Sie sich doch zu uns.«
»Als ich neun war, habe ich einiges gesehen.« Er unterbrach sich und schaute noch einmal auf Dr. Hagenbach.
»Keine Bedenken«, sagte ich aufmunternd.
»Selbstverständlich lasse ich Sie beide alleine«, sagte mein Kollege, »es ist doch keine Frage –«
»Doch«, sagte ich, »bleiben Sie, wo Sie sind. Wissen Sie«, wandte ich mich an Hans Egle, »nachher muss ich Herrn Dr. Hagenbach doch alles erzählen. Da kann er gleich zuhören.«
»Es geht um meine Oma, Josephine Egle in Tigerfeld. Sie ist schon lange tot.«
Ich nickte, ich kannte Frau Egle noch.
»Warum ich mit Ihnen rede, hat damit zu tun, dass alle sagen, dass Sie hinter dem Mörder her sind, mehr als die beiden Kommissare, so sagen die Leute jedenfalls.«
Er machte eine Pause und wischte sich den Nacken. Wir hörten zu.
»Wie gesagt, wir hatten Verwandte in Tigerfeld, meine Oma väterlicherseits, wir Kinder durften sie oft besuchen.«
Natürlich hatte er von dem Verbrechen gehört. Wenn die Erwachsenen darüber redeten, hatte er immer aus dem Zimmer gehen müssen. Manchmal aber hatten sie ihn auch
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