Albtraum
über seinen Verleger das neueste Werbematerial zu seinen Büchern, Lesungen und Autogrammstunden zukommen ließ.
Es war der einzige Kontakt, den sie seit Jahren miteinander hatten. Und es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, ihnen seine Erfolge unter die Nase zu reiben. Er kannte Richard gut genug, um zu wissen, dass der Erfolg seines ehemaligen Kumpels ihn verrückt machte. Für Richard gab es nur einen akzeptablen Sieger, und der musste Richard Patrick Ryan heißen.
Luke riss sich aus seinen Erinnerungen. Richard und Kate gehörten der Vergangenheit an. Er hatte seinen Zorn und seine Desillusionierung längst überwunden. Die Ryans und ihr Glück schmerzten ihn nicht mehr.
„Luke Dallas?“
Luke drehte sich um. Ein Mann stand hinter ihm, die Hände in den Taschen seines Cordjacketts, und sah ihn intensiv an. „Ja, der bin ich.“
„Tom Morris hat mich geschickt.“
Condor. Luke deutete auf den Platz ihm gegenüber. „Ich freue mich, dass Sie es geschafft haben.“
Der Mann setzte sich und schätzte Luke offenbar ab. Der tat seinerseits dasselbe mit ihm. Condor sah nicht so aus wie Lukes Romanheld. Er hatte ein Durchschnittsgesicht ohne besondere Auffälligkeiten. Mittelbraunes Haar, braune Augen, mittelgroß, kantiges Kinn. Ein nettes Gesicht, angenehm, unauffällig. Er konnte jedermanns Nachbar, Bruder, Sohn sein.
Luke neigte den Kopf zur Seite. Der Mann hatte et was Entwaffnendes, eine locker lässige Art, die zu dem Trugschluss führen konnte, er sei unaufmerksam.
Doch dieser Eindruck änderte sich, sobald man ihm in die Augen sah. Der Mann war wachsam und intelligent. Ihm entging kein Detail, so unbedeutend es erscheinen mochte.
„Ihre Bücher gefallen mir“, sagte der Mann. „‚Last Dance‘ hat mich ganz kribbelig gemacht.“
„Danke.“
„Gehen wir ein Stück.“
Luke bezahlte das Bier, und sie gingen hinaus. Die Nacht war kühl. Das Viertel, in dem sie sich befanden, wirkte leicht heruntergekommen. Angesichts seiner Begleitung fürchtete Luke jedoch nicht um seine Sicherheit. Er kuschelte sich tiefer in seine Bomberjacke. „Sind Sie bewaffnet?“
Der Mann lächelte. „Wäre Ihr Romanheld das?“
„Ja.“
„Womit?“
„Mit einer 22er Halbautomatik. Gebraucht.“
„Es gibt viele Möglichkeiten der Bewaffnung.“ Condor streifte Luke mit einem Seitenblick. „Eine Schusswaffe ist nicht immer die beste Lösung. Hängt von der Situation ab.“
„Oder vom Auftrag.“
„Ich habe heute Nacht keinen Auftrag.“
Luke neigte den Kopf. „Hat Morris Ihnen gesagt, dass ich Sie interviewen will?“
„Ihr neuer Romanheld ist ein Typ wie ich.“
„Ja.“ Sie erreichten den Block hinter der Bar.
„Held oder Bösewicht?“
„Beides. Ein Antiheld. Das Buch ist das erste aus einer Serie wie die Alex-Lawson-Geschichten.“
„Also werde ich am Schluss nicht platt gemacht?“
Luke lachte. „Nein. Und Sie bekommen vielleicht sogar die Heldin.“
Condor lächelte. „Das gefällt mir. Was genau erhoffen Sie sich von unserem Gespräch?“
„Ich möchte in Ihren Kopf sehen. Verstehen, was Leutewie Sie antreibt. Ich will Ihre Gedankengänge und die Einstellung zu Ihrem Beruf verstehen. Ich möchte einen wirklichen Einblick in Dinge bekommen, von denen die meisten Leute keine Ahnung haben: Wie Sie Ihren Auftrag planen, wie Ihr tägliches Leben aussieht und wie Sie sich fühlen, wenn Sie einen Auftrag beendet haben.“
„Sie wollen eine ganze Menge.“ Condor sah zum nächtlichen Himmel hinauf.
„Ja, aber ich nehme, was Sie mir freiwillig geben. Für meine Leser ist alles, was in meinem Buch steht, Ausgeburt meiner Fantasie.“
Condor blieb stehen. Sie hatten den Block umrundet und waren wieder kurz vor der Bar. „Ich denke darüber nach. Ich melde mich bei Ihnen.“
„Wann?“
„Das werden Sie erfahren, wenn ich es weiß.“
Und schon war er fort.
TEIL IV
JOHN
6. KAPITEL
Yosemite National Park, Kalifornien, Januar 1999
John saß auf einem Felsvorsprung hundert Fuß über dem Merced River im Yosemite National Park. Er atmete die kalte frische Bergluft ein, die seine Lunge füllte und die Seele verjüngte.
Die Schönheit des Ortes sprach ihn an: Die unberührte Natur, der Fluss, die Sequoia-Bäume und der weite blaue Himmel, erschaffen von einer Macht weit größer als der Mensch.
John beugte sich hinunter und nahm eine Hand voll Steine auf. Sie wurden warm in seiner Hand, ihre glatte, harte Oberfläche eine Symphonie an Farben. Die Menschheit liebte es, zu
Weitere Kostenlose Bücher