Albtraum
Dann ziehen Sie sich bitte wieder an. Wir sehen uns dann in meinem Sprechzimmer und bereden, wie es jetzt weitergeht.“
Julianna nickte und war dankbar, dass sie sich ihm nicht in Gegenwart der Schwester anvertrauen musste. Die hatte etwas Großmütterliches an sich, und sie hätte vor ihr nicht völlig offen sein können.
Zehn Minuten später saß Julianna angezogen Dr. Samuel gegenüber. „Hier steht, dass Sie neu sind in der Stadt, Miss Starr. Wir brauchen Ihre bisherigen medizinischen Berichte. Sie haben auf dem Fragebogen keinen Gynäkologen angegeben.“
„Ich habe noch keinen“, gestand sie ihm leicht verlegen. „Den Schwangerschaftstest hat mein Hausarzt gemacht und … und …“
„Und dann haben Sie keinen Arzt mehr aufgesucht. Dann nehmen Sie also auch noch keine pränatalen Vitamine. Aber das macht nichts, das ändern wir sofort.“ Er schrieb ihr ein Rezept aus.
„Ich möchte eine Abtreibung vornehmen lassen.“
Der Doktor hob ruckartig den Kopf. „Wie bitte?“
„Ich will dieses Kind nicht. Schwanger zu werden war ein großer Fehler.“
Der Arzt schwieg einen Moment und räusperte sich dann. „Was ist mit dem Vater?“
„Ich habe mich von ihm getrennt. Und er hat von Anfang an klar gemacht, dass er dieses Kind nicht will.“
Dr. Samuel faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch. „Dann haben Sie ein Problem, junge Lady. Zunächst einmal, ich nehme keine Abtreibungen vor. Ich wurde Gynäkologe, um Leben in die Welt zu holen, nicht um es zu beenden.“
„Aber könnten Sie mich denn dann nicht zu jemand überweisen, der …“
„Zum anderen kommt eine Abtreibung für Sie auch gar nicht mehr in Frage“, schnitt er ihr das Wort ab. „Ihre Schwangerschaft ist zu weit fortgeschritten. Laut Gesetz ist eine Abtreibung nur bis zur 24. Woche nach der letzten Regel erlaubt. Sie haben den Termin um eine Woche und drei Tage überschritten.“
Anderthalb Wochen, das ist doch kaum etwas. Juliannaschüttelte fassungslos den Kopf, und ihre Augen wurden feucht. „Aber Sie verstehen nicht … ich habe niemand. Ich kann mich nicht um das Baby kümmern. Ich weiß nicht wie.“
„Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.“
Er stand auf, doch sie ergriff seine Hand und hielt ihn fest. „Könnte nicht jemand, der Abtreibungen vornimmt, das Datum ein bisschen manipulieren?“
Dr. Samuels Wangen röteten sich, und er entzog ihr unfreundlich die Hand. „Sie bitten einen Arzt zu lügen, das Gesetz zu brechen und seine Berufszulassung aufs Spiel zu setzen? Nicht nur das“, fuhr er ärgerlich fort und sah auf seine Uhr. „Ich zeige Ihnen etwas.“ Er holte ein Buch aus dem Schrank, schlug es auf und legte es ihr hin.
Das Foto zeigte ein Kind im Mutterleib. „Sehen Sie, das ist die Entwicklung des Fötus mit zwei Monaten.“
Das Kleine sah aus wie ein Alien, mit einem zu großenKopf und bläulichen spinnennetzartigen Venen unter der durchschimmernden Haut.
Der Doktor blätterte weiter und hielt inne. „Und hier ist Ihr Baby.“
Julianna betrachtete das Bild mit Herzklopfen. Das hier war bereits ein vollkommen entwickelter kleiner Mensch mit Händen, Füßen, Zehen und einem Gesicht. Und es lutschte am Daumen. Sie legte die Hände auf ihren Leib und sah zu Dr. Samuel auf. „Sind Sie sicher … ich meine …“
„Absolut.“ Er räusperte sich. „Babys in diesem Altererkennen bereits die Stimme ihrer Mutter. Sie reagieren messbar auf Licht und Geräusche, und es besteht auch bereits eine schwache Chance, dass sie außerhalb des Mutterleibes überleben können.“
„Das wusste ich nicht.“ Sie betrachtete wieder das Bild. „Ich dachte …“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Was soll ich nur tun, Dr. Samuel?“
Er reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher, und seine Miene wurde sanfter. „Julianna, Sie sagen, dass Sie nicht für das Kind sorgen wollen und können. Haben Sie schon mal daran gedacht, es zur Adoption frei zu geben?“
„Adoption?“ wiederholte sie begriffsstutzig. „Nein, ich habe überhaupt noch nicht viel nachgedacht …“
Außer über John und wie ich überlebe.
Der Arzt setzte sich ihr wieder gegenüber. „Es gibt Tausende Paare in diesem Land, die keine Kinder bekommen können. Es sind nette, solide Leute, die dem Kind ein gutes Zuhause und eine liebende Familie bieten.“ Er beugte sich ernst vor. „Sie sind bereits weit fortgeschritten in der Schwangerschaft. Es dauert nicht mehr sehr lange für Sie. Adoption wäre die ideale
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