Alcatraz und die dunkle Bibliothek
dich nach elektrischem Licht zu fragen. Und das bedeutet …«
Sing stolperte.
Einen Moment lang blieb ich noch in der Senkrechten, dann warf ich mich zu Boden. Sing versuchte nicht einmal, das Gleichgewicht zu halten, sondern ging wie ein gefällter Baum zu Boden. Auch Bastille ließ sich fallen, und das mit einem Tempo und einer Heftigkeit, als wolle sie unbedingt die Erste sein, die den Boden berührte. Wir landeten also alle drei auf den Steinen wie eine Gruppe hingebungsvoller Märtyrer auf einem Granatentestgelände.
Nichts geschah.
»Also?« Ich sah mich vorsichtig um.
»Ich sehe nichts«, flüsterte Bastille. »Was ist mit dir, Sing?«
»Ich glaube, ich habe mir etwas geprellt«, murmelte er und rieb sich die Seite. »Eine der Pistolen hat sich in meinen Bauch gebohrt!«
Ich schnaubte leise. »Sei froh, dass sie nicht losgegangen ist. Also, warum bist du gestolpert?«
»Weil ich mit dem Fuß an etwas hängen geblieben bin. So funktioniert das nun mal für gewöhnlich, Alcatraz.«
»Aber in diesem Gang gibt es nichts, worüber man stolpern könnte! Der Boden ist vollkommen eben.«
Sing nickte. »Deshalb braucht man ja auch ein echtes Talent, um so gekonnt stolpern zu können wie ich.«
»Was uns zu meiner eigentlichen Frage zurückbringt: Gibt es einen Grund, warum wir uns alle so hinschmeißen mussten? Denn weißt du, es ist nicht sonderlich gemütlich hier unten.«
»Das ist es auf dem Boden selten«, stimmte Sing mir zu.
»Still«, befahl Bastille. »Ich glaube, ich habe etwas gehört.«
Wir schwiegen eine Weile. Dann zuckte Sing mit den Schultern. »Manchmal ist ein Stolpern wohl einfach nur ein Stolpern. Vielleicht hatte ich …«
Da explodierte die Wand.
Sie explodierte wirklich. Geröll flog durch den Gang, und über mir wurden Steinsplitter an die Wand geschleudert. Ich schrie auf und hielt die Arme über den Kopf, um mich vor den Steinchen und Splittern zu schützen, die auf mich herabregneten.
Die Explosion riss links von mir ein großes Loch in die Wand. Ich spähte durch die Öffnung und entdeckte dort inmitten einer Staubwolke einen Furcht einflößenden Schatten.
»Ein Belebter!«, schrie Bastille und rappelte sich hastig auf.
Ich stand ebenfalls auf und befreite mich von den Steinresten. Die Kreatur war offensichtlich kein Mensch. Sie war missgebildet – die Arme waren viel zu breit und zu lang, und sie standen in einem bedrohlichen Winkel vom Rumpf ab. Irgendwie sah die obere Hälfte seines Körpers aus wie ein riesiges »M«, obwohl ich noch nie einem Buchstaben begegnet war, der so gefährlich ausgesehen hatte.
Als der Staub sich legte, konnte ich mehr erkennen. Das Ding war weiß, und seine faltige Haut war mit grauen und schwarzen Muster überzogen. Es sah aus wie …
»Papier?«, fragte ich fassungslos. »Das Ding besteht aus zusammengeknülltem Papier?«
Bastille fluchte, packte mich an der Schulter und schob mich den Gang hinunter. »Lauf!«
Ihr Ton war eindringlich genug, um mich gehorchen zu lassen, und ich rannte los.
Sing kam hinter mir her, während Bastille sich von der kaputten Mauer löste und wachsam beobachtete, wie das Papiermonster taumelnd durch das Loch stieg und so in den Gang eindrang.
»Bastille!«
»Komm schon, Junge. Sie verschafft uns gerade einen Vorsprung!«
Ich ließ mich von Sing weiterziehen. Aber ich drehte mich immer wieder um und behielt Bastille im Auge. Sie wich einigen Schlägen der massigen Kreatur aus. Dann endlich drehte sie sich um und rannte los.
Und das verdammt schnell.
Ihr Mundtoten habt wahrscheinlich noch nie miterlebt, wie ein Ritter von Crystallia seine Fähigkeiten voll ausspielt. Kämpfer wie Bastille verbringen viele Jahre in ihrem Stadtkönigreich und trainieren ihre Körper, lernen ihre Schwerter zu führen, bis sie quasi ein Teil von ihnen werden, üben den Umgang mit den Kriegerlinsen und bekommen schließlich einen ganz bestimmten magischen Kristall implantiert. (Obwohl die Freien Untertanen auch in diesem Fall von Technologie sprechen, nicht von Magie.) Und nur die besten Anwärter werden schließlich zum Ritter geschlagen. Bastille hält bis heute den Rekord, als jüngster Anwärter aller Zeiten den Titel erlangt zu haben.
Aber trotz des ganzen Trainings und der speziellen Ausbildung – wenn ein Crystin laufen will, dann läuft er so richtig. Vollkommen verdattert beobachtete ich, wie Bastille in einem solchen Tempo hinter uns her sprintete, dass jeder olympische Läufer sofort seine Karriere beendet und
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