Alchemie der Unsterblichkeit
wach. Er behauptete, so Gelegenheit zu haben, ungestört Nachforschungen anstellen und seine Aufträge erledigen zu können, ohne die neugierigen Blicke der Menschen ertragen zu müssen. Unruhe befiel Icherios. Etwas war nicht in Ordnung. Einen Moment lauschte er noch, dann stieß er die Tür auf. Das rote Morgenlicht spendete genug Helligkeit, um Icherios das Grauen, das sich in der letzten Nacht abgespielt hatte in aller Deutlichkeit wahrnehmen zu lassen. Zitternd schloss er die Tür hinter sich und nahm den Ort des Todes in Augenschein. An den Wänden klebte Blut. Eva Kolchin hing ausgeblutet vornüber auf einem Stuhl, aus der Wiege erklang kein fröhliches Glucksen mehr, und Lynnart Kolchin war so übel zugerichtet, dass er kaum noch als Mensch zu erkennen war. Icherios wusste, dass es zwecklos war. Trotzdem ging er zur weiblichen Leiche und fühlte ihren Puls. Kein Herzschlag pochte unter seinem Finger. Auch das Kind war tot. In der schmierigen Blutlache, in der der Flurhüter lag, wäre er beinah ausgerutscht. Er betrachtete die zusammengesunkene Gestalt. Eigentlich hätte er Zorn und Trauer empfinden müssen, doch es herrschte Leere in seinem Inneren. Nüchtern registrierte er, dass der Mörder erneut zugeschlagen hatte. Eva Kolchin war mit dem Symbol für Salz gekennzeichnet, ihr Mann mit dem für Schwefel. Beide hatte man ausbluten lassen. Auch wenn die Wände klebrig vor Blut waren, war es zu wenig für die Unmengen an Stichwunden und Schnitten, die ihre Körper entstellten. Lynnart Kolchin musste kurz vor seinem Tod von dem Stuhl gesunken sein. Icherios wunderte sich über die gekrümmte Haltung. Er lag, als wenn er etwas hatte verbergen wollte. Icherios packte ihn an den Schultern. Der Körper des Flurhüters war steif und kalt. Icherios drehte ihn zur Seite. Darunter kam ein verwischter Schriftzug zum Vorschein, den er nicht mehr zu entziffern vermochte. Er hatte versucht, mit seinem eigenen Blut eine Nachricht zu hinterlassen.
Eine einzelne Fliege erhob sich vom Obstteller und schwirrte durch den Raum. Ihr lautes, träges Brummen klang unangemessen in der Stille. Sie flog zum Leichnam von Lynnart Kolchin und setzte sich auf seine weit aufgerissenen Augen. Mit ihrem Rüssel tastend, trippelte sie über die Pupillen. Schlagartig kehrten in Icherios die Empfindungen zurück. Übelkeit stieg in ihm auf. Er musste hier raus. Polternd rannte er zur Tür hinaus an die frische Luft und übergab sich in einen der liebevoll gepflegten Geranienkübel. Zittrig wischte er sich den Mund ab. Er musste zurück zum Schloss. Es waren nun sieben Morde. Der Mörder hatte alles, was er brauchte, und in Icherios keimte ein Verdacht auf. Er glaubte, den Mörder und seine Absichten zu kennen.
Ein kleiner Junge, den Icherios öfters beim Bäcker gesehen hatte, vermutlich sein Gehilfe, schlenderte fröhlich pfeifend den Weg herunter. Die Mütze saß ihm schräg auf dem Kopf. Darunter lugten vorwitzige Büschel roter Haare hervor. Icherios winkte ihn zu sich heran. Der Bursche rümpfte beim Geruch des Erbrochenen die Nase. Sobald er vor Icherios stand, wandelte sich der Knabe von einem Lausbuben zu einem höflichen jungen Menschen. Der Bäcker musste viel Wert auf seine Ausbildung gelegt haben. Mit zuvorkommender Stimme fragte er: »Was kann ich für Euch tun?«
Icherios lächelte ihm wohlwollend zu. Es kostete ihn einiges an Beherrschung, aber er wollte den Jungen nicht erschrecken. »Wie heißt du?«
»Michel.« Der Bäckergehilfe sagte es, als wäre er besonders stolz auf seinen Namen.
»Ich gebe dir einen Kreuzer, wenn du für mich zu Jorm Rabensang rennst.«
Die Augen des Jungen leuchteten beim Anblick der Münze auf. Die kindliche Natur brach durch, als er hastig danach griff. »Was soll ich ihm ausrichten?«
»Er soll zum Haus des Flurhüters kommen und mich danach im Schloss treffen. Sag ihm, dass Inspektor Ceihn dich schickt.«
»Ich weiß, wer Ihr seid.« Der Junge grinste. »Mein Papa redet von Euch. Er sagte Ihr wärt ein ganz schöner Trottel.« Verlegen kaute der Junge auf seiner Unterlippe, als ihm auffiel, dass er etwas Ungebührliches gesagt hatte.
Icherios konnte sich kaum ein Lächeln verkneifen. »Dein Vater scheint ein schlauer Mann zu sein und nun lauf!«
Das ließ der Junge sich nicht zweimal sagen und verschwand zwischen den Häusern.
38
Die Tinktur der Unsterblichkeit
G
A ls er den Gang zur Bibliothek entlangstürmte, hörte er Schritte hinter sich. In ihm herrschte ein Aufruhr, der nur von
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