Alchemie der Unsterblichkeit
spitzenbewehrten Gitter. Türen mit vergitterten Gucklöchern verschlossen die Zellen. Langsam ging Icherios auf die vorderste zu und schaute hinein. Zuerst konnte er in dem Dämmerlicht nichts erkennen. Dann erblickte er einen halb nackten Mann, der im dreckigen Stroh auf dem Boden kauerte. Ein Eimer diente als Nachttopf. Der Gefangene war mittleren Alters. Seine Haare standen in grauen Filzsträhnen vom Kopf ab und verwoben sich mit dem Bart zu einem Geflecht. Als der Mann Icherios sah, schrak er zurück. Seine Augen glänzten in dem schwachen Licht. Schließlich siegte seine Neugier und er tappte zur Tür. »Du bist keiner von denen. Du riechst anders.«
Aus der Nähe erkannte Icherios, dass der Gefangene Bisswunden am Hals aufwies. Ein Vampir hatte von ihm getrunken.
»Lass mich frei«, flüsterte der Mann. »Ich habe Schätze. Sie sind im Wald vergraben. Ich gebe dir alles. Lass mich frei.«
Icherios schüttelte hilflos den Kopf. »Ich habe keinen Schlüssel.
»Du weißt nicht, was sie mit mir machen. Bestien sind das. Wir müssen fliehen.« Der Mann stieß ein irres Lachen aus. Dabei entblößte er eine Reihe gelber Zahnstummel. »Ich schlitze dir schon nicht deinen Wanst auf.«
Icherios schrak zurück. Die Stimme des Mannes verfolgte ihn, während er die restlichen Zellen abschritt. Er fand in allen dasselbe vor: halb verhungerte Männer und Frauen mit Malen am Hals. Manche waren apathisch, andere flehten um Hilfe. Nachdem er seinen Rundgang beendet hatte, war Icherios kreidebleich im Gesicht. Er wollte nur noch weg. Da fiel ein Schatten auf ihn. Sohon stand oben an der Treppe und betrachtete ihn. »Hat Carissima Euch nicht davor gewarnt, in der Feste umherzustreifen?«
Icherios wich zurück. Zuerst wollte er sich entschuldigen, aber das Wehklagen der Menschen hielt ihn ab. Trotzig reckte er das Kinn vor. »Ich habe Stöhnen gehört. Ich kann wohl kaum wegsehen, wenn jemandem Gefahr droht.«
Der Fürst schritt langsam auf ihn zu. Ein resigniertes Seufzen kam über seine Lippen. »Das können Sie nicht, da haben Sie recht. Und nun verlangen Sie eine Erklärung.«
»Allerdings! Was tun Sie mit den armen Menschen?«
»Es sind Mörder und Vergewaltiger. Sie verdienen kein Mitleid.«
»Deshalb werden sie wie Vieh gehalten?«
Sohon zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Von etwas müssen wir leben. Das Märchen, das wir im Dorf verbreiten, dass wir nur außerhalb jagen, ist leicht zu durchschauen. Wir können nicht wochenlang durch die Wälder streifen, um einen Menschen zu finden, und in den Dörfern wären wir zu auffällig. Dieses ist eine viel praktischere Lösung.«
»Sie behandeln sie wie Tiere.« Icherios schreckte vor der Kälte in Sohons Augen zurück.
»Wir sind keine Menschen, Icherios. Vergessen Sie das nicht. Menschen sind eine Nahrungsquelle für uns. Wie Sie ihre Kuh halten, halten wir uns Verbrecher. Seien Sie froh, dass es nur Abschaum ist.«
»Weiß Carissima davon?«
Sohon lächelte amüsiert. »Natürlich. Sie jagt nicht gerne. Dabei beschmutzt sie ihre geliebten Kleider.«
Icherios wollte nichts mehr hören. In den letzten Tagen hatte er versucht zu verdrängen, von was sich Carissima ernährte. Nun wurde ihm mit erschreckender Deutlichkeit bewusst, dass zwischen ihnen ein nicht zu überwindender Abgrund herrschte. Hastig wandte er sich ab und stolperte die Treppe nach oben. Er wollte das Bild von den Gefangenen aus seinem Kopf verdrängen, nicht mehr darüber nachdenken, ob er diese Männer einfach ihrem Schicksal überlassen durfte.
Icherios atmete erleichtert auf, als er die Straßen Dornfeldes betrat. Die Sonne tauchte über den Baumwipfeln auf und hüllte die Ortschaft in ein dunkles Rot. Er war froh, in der Nähe von Menschen zu sein. Selbst ein Werwolf erschien ihm eine angenehmere Gesellschaft als ein Vampir. Sobald das Haus des Flurhüters vor ihm auftauchte, hellte sich Icherios Miene auf. Er freute sich auf seinen neu gewonnen Freund. Er hoffte für ihn, dass er sich bald wieder mit seiner Frau vertragen würde. Er wusste, wie einsam ein Leben ohne Familie war. Kolchin sollte nicht denselben Fehler begehen.
Er klopfte an die Tür. Als ihm niemand öffnete, klopfte er ein zweites Mal. Doch weiterhin blieb alles still. Er überlegte kurz, ob sie noch schliefen. Viele Menschen in Dornfelde passten ihren Lebensrhythmus an die Vampire an und umgekehrt. Dadurch standen die meisten erst mittags auf und gingen spät nachts ins Bett. Der Amtsmann hingegen war immer früh
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