Alchemie der Unsterblichkeit
übernachten?« Icherios schalt sich einen abergläubigen Narren, die Dunkelheit zu fürchten, doch die letzten Tage und vor allem die Nächte brachten sein nüchternes Weltbild ins Schwanken.
»Es gibt keinen Unterschlupf bis Dornfelde. Wir werden uns durchschlagen müssen.« Renfin tätschelte die Pferde. »Wir sind gewappnet. Die Worge werden uns beschützen.«
Als hätten sie seine Worte gehört, tönte das tiefe Geheul der Meute aus dem Wald. Icherios war froh, dass die Tiere sich verbargen und jagten. Ihre Gegenwart flößte ihm Angst ein.
»Ich hoffe nur, dass die Blaufeuer zahlreich brennen.«
»Blaufeuer?«
»Sie gewähren den Menschen Zuflucht vor den Irrlichtern. Ortschaften werden im Dunklen Territorium nur in der Nähe von Blaufeuern gebaut. Erlöschen sie, ziehen wir an einen Ort, der mehr Schutz bietet.«
Icherios erschien die Situation so unwirklich wie ein schlechter Albtraum. Die ganze Zeit wartete er darauf, dass jemand ihn kneifen und er endlich aufwachen würde. »Irrlichter?«
»Böse Geister, sie schaben einem das Fleisch von den Knochen.«
Icherios schüttelte den Kopf. Er hatte den Kutscher für einen nüchternen Mann gehalten. Dass er derart abergläubig war, erschreckte ihn. Im Wald heulten die Worge erneut auf. Ein Schauer lief Icherios’ Rücken hinunter.
Die Dunkelheit schlich sich an die Reisenden heran und fiel über sie her wie eine Natter über ihr Opfer. Renfin entzündete die Laternen am Kutschbock. Ihr Licht spiegelte sich in den violetten Augen der Pferde. Die Worge rannten lautlosen Schatten gleich dicht neben der Kutsche her. Lantag hob regelmäßig prüfend die Nase in die Luft. Und dann sah Icherios eines dieser Blaufeuer, das die Finsternis erhellte. Es loderte nahezu drei Meter hoch als leuchtender, tiefblauer Kranz. Er öffnete trotz der Kälte das Fenster und streckte seinen Kopf hinaus, um es besser sehen zu können. Die Pferde wieherten, als sie den Feuerring , und der junge Gelehrte hob in der Erwartung der Hitze schützend seinen Arm vor die Augen, aber das Blaufeuer brannte, ohne Wärme oder Geruch zu verströmen. Diese Tatsache und der gespenstische Anblick erschütterten den rational denkenden Icherios geradezu. Ein eisiger Schauer lief ihm den Rücken hinunter, doch dann besann er sich seiner wissenschaftlichen Ausbildung und verbrachte die nächsten Stunden damit, Aufzeichnungen über die Blaufeuer anzufertigen. Er gedachte dieses Phänomen nach der Aufklärung der Mordserie etwas genauer zu untersuchen. Es musste eine rationale Erklärung dafür geben! Die Existenz von Irrlichtern hielt er für ausgeschlossen. Geister gab es einzig in der Fantasie emotionsgeleiteter Menschen, und diese gab es im Schwarzwald offenbar zuhauf. Auf ein Klopfen des Kutschers hin streckte Icherios erneut den Kopf aus dem Fenster. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, vermochte er die Umrisse einer Burg zu erkennen, die wie eine hungrige Raubkatze auf dem Berg lauerte. Das gelbe Mondlicht spiegelte sich in einem See, der direkt an der dicken Steinmauer lag, die Dornfelde umgab. Auf einer Halbinsel zeichneten sich die Konturen einer Kirche ab. Der dichte Nadelwald war in einem dreißig Meter durchmessenden Ring um den Ort gerodet worden. Die starke Befestigung des Ortes erschütterte Icherios mehr, als all die Geschichten von Geistern und Monstern. Selbst Karlsruhe verfügte über keine derart beeindruckende Befestigungsanlage. Mit der nächsten Wegbiegung verschwand Dornfelde hinter einer Reihe von Nadelbäumen. Der Schein der Lichter in den Häusern tanzte noch lange vor Icherios’ Augen, bis er sich an die Finsternis gewöhnt hatte. Die Straße führte nun stetig bergab, und nach einigen Minuten tauchte die Ortschaft wieder in ihrem Blickfeld auf. Die Pferde rasten in gestrecktem Galopp den Weg entlang. Icherios musste sich am Sitz festklammern, um nicht umhergeschleudert zu werden, während sie von Schlagloch zu Schlagloch sprangen. Er fragte sich, ob Renfin den Verstand verloren hatte. Endlich hielten sie vor einem hohen, verschlossenen Tor. Es war gerade breit genug, um eine Kutsche passieren zu lassen. Icherios hörte Renfin fluchen. Dann sah er ihn zum Tor rennen. Der junge Gelehrte öffnete die Tür und kletterte den Tritt hinunter. Die feuchte Nachtluft schlug sich sofort auf seiner Brille nieder und verschleierte seine Sicht. Renfin hämmerte verzweifelt gegen das Tor und verlangte Einlass. Icherios verstand die Aufregung nicht, befanden sie
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