Alchemie der Unsterblichkeit
und ihnen den Rest überließ. Sobald Renfin den Griff um seine Hand gelockert hatte, zog Icherios sie aus dem Käfig.
»War doch nicht so schlimm.«
Icherios hörte das Reißen von Sehnen, das Knacken von Knochen, roch den metallischen Geruch von Blut. Zusammen mit der nachlassenden Panik löste das in ihm einen unbezwingbaren Brechreiz aus, und er übergab sich neben die Tür. Beschämt drehte er sich zu den Männern um.
»Wenigstens schreit er nicht«, stellte der Skigmeyer fest.
Bevor Icherios Einwände erheben konnte, öffnete Renfin die Tür zu den Worgen. Von dem Kaninchen waren nur noch Blutspritzer übrig. Lantag schritt als Erster majestätisch heraus, blieb vor Icherios stehen, schnüffelte an seinen Beinen und schob dann seinen mächtigen Kopf unter seine Hand. Er warf sie hoch, sodass sie genau auf seinem Schädel landete.
»Er mag Euch. Streichelt ihn«, wies ihn Renfin an.
Zögerlich folgte Icherios der Anweisung. Das Fell des Worg war erstaunlich weich. Mit wachsender Freude fuhr er durch den Pelz. Lantag beobachtete jede seiner Bewegungen, dann stieß er ein lautes Heulen aus und sprintete aus der Kammer in die hereinbrechende Nacht. Sein Rudel folgte ihm dicht auf. Trotz der Menge an Tieren spürte Icherios nicht mehr als den Hauch einer Berührung, bevor sie verschwanden.
»Jagdzeit«, grinste der Steigmeyer.
Die Nacht verbrachten sie in der Turmruine. Anstelle des eingestürzten Daches dienten eine Plane und grob zusammengezimmerte Planken als Schutz. In der Mitte befand sich eine kleine Feuerstelle, in deren Schein sich der Steigmeyer mit frischem Blut aus einem Eimer einrieb.
Renfin bemerkte Icherios fragenden Blick und flüsterte: »Es soll seinen menschlichen Geruch überdecken.« Renfin schnaubte verächtlich. »Als wenn das helfen würde.«
»Warum redet er ständig vom Schreien?« Icherios bemühte sich ebenfalls um einen leisen Tonfall, doch seine Stimme brach und krächzte, wann immer er es versuchte.
»Er behauptet, vor etwa dreißig Jahren das Weinen eines Kindes gehört zu haben. Außerdem meint er, ein Licht gesehen zu haben, das aus Dornfelde kam. Er glaubt ein Vampir oder Werwolf habe sich ein kleines Kind geholt und zur Mahlzeit gemacht. Niemand weiß, was genau er gesehen hat, aber seit dieser Zeit ist sein Geist verdreht. So schlimm wie heute war es allerdings noch nie. Irgendetwas muss ihm Angst eingejagt haben.«
Schaudernd wickelte Icherios die Decke fester um sich. In dieser Nacht wagte er es nicht, auch nur einen Tropfen Laudanum zu nehmen, obwohl sein ganzer Körper danach verlangte. Immer und immer wieder betete er vor sich hin, dass es nichts Übernatürliches gab. Für alles gibt es eine wissenschaftliche Erklärung.
6
Irrlichter
G
D ie höchste Tugend ist die Freiheit von Emotionen.
Diese Weisheit, die sich auf dem Deckel seines Folianten wiederfand, flüsterte Icherios den ganzen Morgen vor sich hin, nachdem man ihn steif und zitternd mit einem Becher heißen Tee in die Kutsche gesetzt hatte. Dieser Leitsatz bestimmte Icherios’ Streben, ein anerkannter Gelehrter zu werden. Im Moment fühlte er sich von diesem Vorsatz ebenso weit entfernt, wie Maleficium es von guten Tischmanieren war. Die Ratte verspeiste genüsslich einen Brocken Käse auf Icherios’ Unterlagen und hinterließ fettige Spuren auf dem Papier. Der Anblick seines kleinen Gefährten weckte ihn aus dem tranceartigen Zustand, in den er gefallen war. Seufzend griff er mit seinen feingliedrigen Händen nach dem Tier und ließ es in seinen Kastorhut gleiten. »Du weißt doch, dass du meine Aufzeichnungen nicht beschmutzen sollst, dummes Ding.« Ein weiterer Seufzer schlich sich über seine Lippen. »Und ich sollte nicht mit einer Ratte reden.«
Das protestierende Quieken ignorierend, nahm Icherios den Brief seines Schutzherren heraus und studierte ihn erneut. »Nicht meinen Erwartungen entsprechen«, murmelte Icherios und lachte. Das war eine gewaltige Untertreibung. Draußen herrschte dämmeriges Licht. Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, wirkte alles düster und farblos. Es war als würde man durch eine getönte Glasscheibe blicken.
Gegen Mittag legten sie eine kurze Rast auf einer schmalen Lichtung ein. Die schwarzen Pferde waren ausdauernder als jedes andere Tier, das Icherios kannte. Sie hielten über Stunden einen zügigen Trab aufrecht. Renfin äußerte dennoch seine wachsende Besorgnis. »Wird Nacht werden, bis wir den Ort erreichen.«
»Können wir nicht woanders
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