Alchemie der Unsterblichkeit
machten sich in ihm breit. Kurz rang er mit sich, ob er die Wahrheit sagen und seine eigene Schuld eingestehen sollte. Er bezweifelte, dass er mit noch mehr Lügen und Geheimnissen leben konnte. »Es ist Arsen. Jemand vergiftet sie. Die roten Augen, ich hätte es früher sehen müssen.« Flehend blickte er zu Loretta auf. »Es tut mir leid. Ich hätte nie gedacht, dass jemand sie töten will.«
Widerstreitende Gefühle zeichneten sich auf Lorettas Gesicht ab. Hass, Enttäuschung, Entsetzen, Wut, aber auch Trauer und Hoffnung. Sie kniete sich neben ihn. »Was kann ich tun?«
»Bleibt bei ihr. Achtet darauf, dass sie nichts zu sich nimmt, das nicht von Euch zubereitet wurde. Lasst niemanden in ihre Nähe.«
»Warum fügt ihr jemand Leid zu? Sie stört doch keinen und ist nicht gefährlich. Sie hat eine liebe Seele, die den Tod unserer Mutter nicht verkraftet hat.« Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Ich weiß es nicht.« Icherios fragte sich, ob er auf Lorettas Vater hinweisen sollte, aber er fürchtete ihre Reaktion. Icherios schwirrte der Kopf. Hatte er es nun mit zwei Mördern zu tun? Ein Blick auf Maribelle verriet ihm, dass sie vermutlich nicht überleben würde. Doch er wollte Lorettas Hoffnung nicht gleich zerstören. »Wartet hier.«
Er ging in sein Zimmer und holte ein kleines, braun getöntes Glasfläschchen. »Gebt ihr davon alle paar Stunden einen Löffel. Es ist Carbo medicinalis. Sie muss viel Knoblauch essen.«
Loretta rang sich ein leises »Danke« ab. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie über die Haare ihrer Schwester strich.
Unschlüssig beobachtete Icherios die Geschwister. Plötzlich drangen laute Schreie und Rufe durch das geöffnete Fenster. Froh darüber, eine Ausrede zu haben, verabschiedete er sich und lief hinunter auf die Straße.
27
Aufruhr
G
A uf der Straße herrschte Chaos. Menschen, Vampire und Werwölfe drängten aneinander vorbei, schrien und tobten. Eine junge menschliche Frau zog ihre beiden kleinen Kinder hinter sich her, weg vom Marktplatz, von dem der Lärm herüberschallte. Das blond gelockte Mädchen stürzte plötzlich und begann zu schreien. Eilig nahm die Mutter ihr Kind auf den Arm und rannte davon, als wenn der Teufel sie jagen würde.
Icherios schloss sich einem Pulk Männer an, der mit Knüppeln bewaffnet zum Dorfzentrum eilte. Sie kamen zu dem sorgfältig angelegten Markplatz, dessen Pflaster aus bunten, in konzentrischen Kreisen angeordneten Steinen bestand. Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine Plattform, die für Redner und Aufführungen genutzt wurde. Die Häuser, die den Platz umsäumten, wirkten verlassen, die Fensterläden und Türen verschlossen. Kein Spielzeug, Stuhl oder Hund lag vor den Häusern, stattdessen füllte sich die Fläche mit wütenden Gruppen der verschiedenen Arten. Ein dutzend Menschen ging auf vier Vampire los. Auf dem Boden lag ein schwer verwundeter Mann. Erboste Rufe gellten von den neben ihm knienden Männern zu den Werwölfen hinüber. Aus ihren Worten konnte Icherios entnehmen, dass es sich beim Verletzten um Peyr Teker, den Anführer des menschlichen Widerstandes handelte. Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit standen die Chancen für die Menschen schlecht. Die Männer schienen sich dessen nicht bewusst zu sein.
Ein großer, schlanker Werwolf schmetterte mit einem einzigen Schlag einen menschlichen Hünen nieder. Die Schlägerei weitete sich immer weiter aus. Die weniger gewaltbereiten Menschen machten der tobenden Menge Platz. Ein Mann wurde gegen die Pfeiler der Plattform geschleudert und sank bewusstlos zu Boden. Da raste ein schwarzer Schemen auf die Plattform. Ein lauter Knall ertönte, dann kniete Sohon auf der freien Fläche. Den Stab in den vorgestreckten Händen auf den Boden gestemmt. Stille kehrte ein, als er sich langsam aufrichtete und jeden einzelnen Menschen, Vampir und Werwolf mit Blicken maß. In diesem Augenblick wirkte er wie das perfekte Abbild eines Adeligen, wie er sein sollte: stolz, beherrscht und von unglaublicher Präsenz. Sein langer Mantel wehte in dem leichten Wind. Sein Gesicht schimmerte blass im Sonnenschein. Es war das erste Mal, dass Icherios ihn nicht in Farbe gekleidet sah, sondern, aus Trauer um seine Cousine, in schwarzem Samt. Die Menge schien die Luft anzuhalten. Mit einem herrischen Wink befahl Sohon, Rabensang, Kolchin und den Pfarrer passieren zu lassen. Vom Bürgermeister war weit und breit nichts zu sehen. Icherios kämpfte sich durch die Menschenmenge
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