Aldebaran
Melina und ihre Mutter sahen ihn verständnislos an.
»Oben auf dem Schrank«, antwortete Melina. »Warum fragst du?«
»Weil ich den Kerl umbringe! Ich bring ihn um!«
»Wir haben schon genug Unglück!«, rief ihre Mutter. »Geh nach Haus.«
Am nächsten Tag trat er mit Melina der Sozialistischen Jugend bei. Sie kämpften leidenschaftlich, Diamantis sogar mit Gewalt. Aber er hatte die Ohrfeige, die Melina empfangen hatte, niemals auslöschen können. Er wusste, was er hätte tun müssen: den Typ umbringen. Dieser Meinung war er heute noch.
»Und du, Abdul, wer bist du?«, fragte er, um das Schweigen zu brechen.
»Ich …«
Abdul war aufgeschreckt. Er war in Gedanken verloren gewesen. Das passierte ihm immer öfter. Er wollte Diamantis mit einem Scherz antworten, fand aber keine Worte. Er war erschöpft. Er wollte schlafen. Nicht mehr an Céphée denken. In einem Groschenroman hatte er kürzlich gelesen: »Es sind immer die Frauen, die ihren Mann verlassen. Das Problem ist nur, dass sie ihren Körper nicht mitnehmen.« Das war seine Frage: Seit wann hatte Céphée ihn verlassen?
»Du brauchst nicht zu antworten.«
Abdul stand auf. Er wirkte immer größer, wenn er aufstand. Auch dünner, stellte Diamantis fest. »Ich, weißt du …« Er suchte Diamantis’ Blick. »Ich bin jemand, der in der Versenkung verschwindet. Einfach so. Von Schuld zermürbt.«
Diamantis lachte. »Mir ist noch kein Seemann begegnet, der sich nicht schuldig fühlt.«
»Das ist etwas anderes, Diamantis. Irgendwann erzähle ichs dir. Aber – ich glaub, ich leg mich hin. Sei mir nicht böse wegen all der Fragen. Ich bin neugierig, klar. Aber deine Antworten ersparen es mir, auf meine Fragen zu antworten.«
Diamantis pfiff durch die Zähne. »Zum Teufel, ich bin also nicht der einzige Philosoph auf diesem verfluchten Kahn.«
4 Die Mädchen vom Blauen Papagei
Mit Ausnahme der beiden Birmanen, die sich gleich nach der Auszahlung ihrer Abfindung in Luft auflösten, beschlossen die anderen Besatzungsmitglieder, sich ein ordentliches Essen zu gönnen. Tausendfünfhundert Francs in der Tasche – das hatten sie schon lange nicht mehr gehabt. Eine richtige Mahlzeit auch nicht.
Sie aßen am Hafen. Auf der Seite Rive-Neuve. Wie echte Touristen. Fischsuppe mit »Rouille und Croutons«, wie es sich gehörte, Goldbrasse mit gedünsteten Kartoffeln, Käse und Dessert nach Wahl, Flan »nach Art des Hauses« oder zwei Kugeln Eis. Das Essen hätte kaum einen Eintrag im GaultMillau verdient, aber sie kamen glücklich mit fünfundsiebzig Francs pro Person davon. Ohne den Wein.
Nach dem Kaffee fanden Ousbène und Nedim sich allein wieder. Die drei anderen hatten den Nachtzug nach Paris genommen. Der Ungar fuhr anschließend nach Hause weiter. Der Komorer zog nach Antwerpen. Dort sollte es laut seinem Onkel, der dort lebte, Anheuermöglichkeiten nach Chile geben. Der Marokkaner hatte beschlossen, sich ihm anzuschließen. Wenn sich für einen eine Gelegenheit ergab, dann vielleicht auch für zwei.
Ousbènes Zug nach Italien fuhr erst gegen Mitternacht. Nedim seinerseits hatte es nicht eilig. Der Lastwagenfahrer hatte ihn auf fünf Uhr morgens zum Parkplatz beim Schuppen J4 bestellt. Das war hinter dem Fort Saint-Jean auf dem Hafengelände. Ein unbenutzter Lagerschuppen am Hafenbecken La Grande Joliette. Ein Symbol für den Untergang des Marseiller Hafens. Während er auf seinen Abriss wartete, diente er gelegentlich als Konzerthalle.
Nedim kannte die Gegend gut. In den ersten Tagen, als er noch etwas Geld hatte, war er auf Rat eines Hafenarbeiters dorthin gegangen, um ein wenig Gras zu kaufen. Ganze Familien aus Nordafrika schliefen dort in ihren Wagen, um eine Fähre zu ergattern. Das war der Ort für allerlei kleine Geschäfte. Man konnte alles Mögliche kaufen und verkaufen. Einige Mädchen boten sich zu einem Spottpreis auf dem Strich an. Meistens an Fernfahrer, die auf dem Hafengelände verluden. Die Flics veranstalteten zwar ab und zu eine Razzia, doch mehr aus Prinzip und um Angst zu verbreiten, als in der Erwartung, einen dicken Fang zu machen.
Ousbène schlug Nedim vor, im Blauen Papagei an der Rue des Dames einen zu trinken, um die Zeit totzuschlagen. Eine afrikanische Kneipe, die er eines Abends entdeckt hatte.
»Eine Bar mit Nutten?«, fragte Nedim.
»Nein, eine ganz normale Disco. Mit guter Musik. Salsa, Beguine, Merengue. Da gehts heiß her, das hast du noch nicht gesehen, Mann! Außerdem ist es zwischen Bahnhof und Hafen
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