Aldebaran
was sagen, Amina«, fuhr er fort, nachdem er ihr Feuer gegeben hatte. »Du musst noch viel lernen. Wir reden später darüber. Aber merk dir eins. Als du in meinen Wagen gerannt bist, war das nicht so schlimm für dich, wie von den Typen wieder erwischt zu werden, du weißt schon, die dich an der Kehle hatten. Mit ihnen lägst du nicht in diesem Bett, sondern drei Fuß unter der Erde. Vergiss nicht, dass du mir dein Leben verdankst.«
Später hatte sie erfahren, wer Ricardo war. Eines der hohen Tiere in der Marseiller Unterwelt. Einer der letzten Überlebenden. Ein gefährlicher Mann also. Er hatte ihr die Wahl gelassen. Entweder sie wurde auf der Stelle seine Geliebte, oder er schickte sie auf die Straße. Rue Curiol, oben an der Canebière. Oder Rue Tapis-Vert oder Rue Thubaneau nahe am Cours Belzunce. Ganz miese Viertel, hatte er gesagt. In den Straßen geht es Schlag auf Schlag.
»Du kannst mich mal«, hatte sie geantwortet.
Er hatte ihr eine Ohrfeige verpasst, mit Nachdruck, aber ohne Hass. Kalt.
»Denk darüber nach.«
Sie hatte schnell nachgedacht. Umso schneller, als Ricardo ihre Bedingung akzeptierte. Nicht mehr auf Gedeih und Verderb einem Wahnsinnsanfall von Schmit ausgeliefert sein! Ihr wurde schon schlecht, wenn sie nur an ihn und sein Messer dachte. Ihn in den Straßen zu wissen, nahm ihr jede Lust, sich dort aufzuhalten.
Eines Morgens brachte Ricardo ihr die Zeitung. Schmits Foto war groß und breit auf der ersten Seite abgebildet. Er hatte gestern Abend auf dem Nachhauseweg zwei Kugeln in den Bauch und eine in den Kopf abbekommen. »Begleichung von alten Rechnungen«, lautete der Zeitungskommentar. Amina wollte den Bericht über ihn nicht lesen. Hauptsache, er war krepiert. Sie hatte schnell gelernt, dass es weder Gerechtigkeit noch Mitleid gibt. Für einen Moment hatte sie daran gedacht, auch den Kopf ihres Vaters zu fordern. Aber sie hatte sich nicht dazu durchringen können. Er war nur eine erbärmliche Null. Zwar hatte er sie ins Unglück gestürzt, aber er war ihr Vater. Sie sorgte nur dafür, dass er ihre Mutter nicht mehr belästigte.
Amina half ihrer Mutter, fern von ihm ein neues Leben zu beginnen. Und nicht mehr als Putzfrau. Sie brachten sie in einem kleinen Einzelhaus in Beaumont unter, in jenem italienischen Viertel, in dem Ricardos Onkel und Cousins lebten. Amina besuchte sie gern auf einen Kaffee oder ein Couscous, wie nur sie ihn zubereiten konnte. Ricardo begleitete sie nie. Er ließ sie mit ihrer Mutter allein. Es war einen Monat vor ihrer Niederkunft. Dass sie schwanger war, verbarg Amina so lange wie möglich vor Ricardo. Bis eine Abtreibung nicht mehr infrage kam. Zum Glück wuchs ihr Bauch nicht so schnell.
»Ist der Balg von dem Seemann?«, fragte er.
»Ja.«
Sie rechnete mit einer Ohrfeige. Aber es kam keine.
»Na gut«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Deine Mutter wird ihn aufziehen. Ich werde ihr Geld dafür geben.«
Lalla hatte eine glückliche Kindheit als falsches Waisenkind, zärtlich umsorgt von ihren beiden »Tanten«. Amina lieferte sich ganz Ricardo aus. Unvorbereitet tauchte sie mit ihm in tiefe Gewässer. Sie entdeckte bald, dass das Leben mit ihm in einer Welt spielte, die sich als ebenso gefährlich wie faszinierend erwies. Dass sie Ricardo gehörte, verschaffte ihr Macht und Komfort. Auch Respekt und Sicherheit. Sie ging kein Risiko mehr ein. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr, aber es verlief glücklicher als das von tausend anderen. Ein Vernunftleben, so wie es Vernunftehen gab. Sie gewöhnte sich daran.
Mit der Zeit wurde Ricardo ihrer überdrüssig, ihres Körpers. Leben ohne Liebe wird immer zum Überdruss. Sie wurde älter, er auch. Er hatte andere Mätressen in Marseille, aber auch an der Côte d’Azur. Und nicht wenig Ärger. Gangs gerieten aneinander. Wegen Drogen, Prostitution, Glücksspiel. Aber auch im Immobiliengeschäft, auf dem freien Markt und somit bis in die Politik hinein.
Ricardo hatte sich für die Mafia und gegen das traditionelle Marseiller Milieu entschieden, das durch interne Querelen geschwächt war. Aber die Mafia war nicht nur eine famiglia. Auch sie wurde von internen Rivalitäten zerrüttet. Jean-Louis Fargette, mit dem er sich zusammengetan hatte, war in San Remo niedergeschossen worden. Ricardo begann zu leben, als könnte jeder Tag der letzte sein. Er kehrte zu Amina zurück und spielte wieder seine Rolle als alter Liebhaber. Er brachte sie auf den Hügeln von Roucas-Blanc unter. In einer hübschen, kleinen Villa
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