Aldebaran
Tasche nach ihren Papieren durchwühlt. Sie dachte an die Postkarte von Diamantis. An das, was er ihr geschrieben hatte. Und an den Nachsatz, den er zugefügt hatte. »Wir kommen am zweiundzwanzigsten. Liegeplatz 112.«
»Wie spät ist es?«, fragte sie.
»Ein Uhr. Warum?«
Diamantis kam heute Abend. Sie schloss die Augen, ohne zu antworten. Bis dahin würde sie von hier abgehauen sein. Sie würde schon einen Weg finden. Jetzt wollte sie schlafen. Hier oder sonst wo, egal. Sie konnte nicht mehr. Heute Abend …
Ricardos Stimme drang von sehr weit her zu ihr, wie durch einen Wattemantel.
»Wir werden uns schon um deinen Freund kümmern, den Seemann.«
Nedim legte freundschaftlich eine Hand auf Aminas Arm.
»Ehrlich, verzeih mir.«
Er sah wieder auf den Stern unter Aminas Auge und sein Blick wurde weich.
Seine Ernsthaftigkeit rührte sie. »Mach dir keine Sorgen, Nedim. Ich bin dir nicht böse.«
»Na, dann auf uns!«, rief er erleichtert. Er hob sein Glas. »Ich tue Frauen nicht gern weh.«
21 Wozu nützt die Wahrheit? Das ist hier die Frage
Amina sah auf die Uhr. Sie wartete verzweifelt auf Diamantis. Ricardo hatte sie auf halb acht ins Son des Guitares an der Place de l’Opéra bestellt. »Wir nehmen einen Aperitif, und dann gehen wir irgendwo essen.« Sie konnte sich nicht drücken. Gestern schon hatte er sie im Mas erwartet, um mit ein paar Freunden zu essen. Aber sie hatte sich nicht entschließen können hinzugehen. Sie stand noch unter dem Schock von der Begegnung mit Diamantis.
»Wolltest du nicht schwimmen gehen?«, fragte sie Lalla. Sie wollte allein sein. Lallas und Nedims Gegenwart ging ihr auf die Nerven. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Kein Palaver.
»Kommst du nicht mit?«
Sie zuckte die Schultern. »Vielleicht … Aber geht schon mal, ihr zwei.« Sie sah erst Nedim, dann Lalla an. Lalla musste begreifen, dass sie allein sein wollte.
Lalla stand auf und verschwand im Innern der Bar. Nedim konnte nicht anders, er musste ihr einfach nachsehen. Er verschlang sie mit den Augen. Verdammt, vielleicht konnte er ihr im Wasser eine Hand auf den Hintern legen.
»Du verdirbst dir noch die Augen«, scherzte Amina.
»Das tut keinem weh«, erwiderte er. »Und es kostet nichts.«
Amina lächelte. Der Typ hatte etwas, das ihr gefiel. Eine Art natürliche Aufrichtigkeit. Man konnte ihm nicht lange böse sein, selbst wenn alles an ihm, alles, was er dachte, unerträglich war. Frauen waren für die Männer entweder Sexualobjekte oder dumme Gänse. So simpel war ihre Welt. Einfach und grausam. Nedim war mit Sicherheit auch so. Aber, gestand sie sich ein, Diamantis musste ihn irgendwie mögen. Warum hätte er sich sonst um ihn gekümmert? Warum hätte er sonst seine Schulden übernommen?
»Sie ist meine Tochter.«
Das rutschte ihr so raus. Die Worte hatten sich nicht zurückhalten lassen. Wegen dieser Aufrichtigkeit, die ein Teil von Nedim war, die sie spürte und die sie rührte. Wie lange war es her, seit sie sich die Zeit genommen hatte, einem Mann mit anderem Interesse zuzuhören als dem, ihm so viel Geld wie möglich abzuluchsen? Sie erzählten alle die gleichen Geschichten. Sie logen. Sie belogen sich selbst. Keiner war zur Wahrheit fähig, sei es auch nur für eine Sekunde. Aber vielleicht lag das an ihrer Arbeit? Konnte man zu einer Animierdame in einem Nachtclub aufrichtig sein?
Nedim sah sie verblüfft an. »Das glaub ich dir nicht«, sagte er.
Was erzählte sie da! Lalla, ihre Tochter? Warum sagte sie das? Ihm? Was zum Teufel ging es ihn an, wessen Tochter Lalla war? In solche Geschichten wollte er nicht hineingezogen werden, die brachten ihn ganz durcheinander. Er konnte Lalla nicht mehr so angaffen, wenn die andere ihre Mutter war. Das war ihm unangenehm.
Er sah Amina wütend an. Und außerdem, wenn man so eine Tochter hatte, riss man sich verdammt noch mal die Beine aus, damit sie nicht auch auf den Strich ging! Na ja, stimmt schon, sie waren keine Nutten. Aber trotzdem! Was war mit einer Ausbildung! Würde er seiner Tochter das antun? Wenn er in Istanbul mit Lalla diese Kneipe aufmachen würde zum Beispiel? Mit Sicherheit nicht.
Amina klopfte Nedim aufs Bein. »He! Ich wollte nur sehen, wie du guckst, Nedim. Kennst du Diamantis schon lange?«, fuhr sie im gleichen Atemzug fort, als sei nichts gewesen.
»Von dieser Reise … Schade, eigentlich.«
»Wieso?«
»Nun, für mich ist die Seefahrt und das alles vorbei. Ich kehre heim.«
»Und er?«
»Was weiß ich! Diamantis redet
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