Aldebaran
mit Meerblick. Ein Paradies. Alles, was er von ihr verlangte, war, dass sie sich bereit hielt, wenn er sie begehrte. Mit den Jahren waren sie zu einer seltsamen Gemeinschaft verwachsen. Zwanzig Jahre. Ein Leben.
Vor zwei Jahren hatte Ricardo sie auf Lalla angesprochen. Er hatte sie in Beaumont besucht.
»Wenn du sie anfasst, bring ich dich um.«
»Ich könnte, wenn ich wollte, und wenn du mich anschließend umbringst, ist mir das scheißegal, Gaby. Früher oder später erwischt mich sowieso eine Kugel … Aber darum geht es nicht. Ich bin über das Alter der kleinen Mädchen hinaus. Ich will, dass du sie mit dir ins Habana nimmst. Der Laden läuft nicht gut genug … Die Mädchen sind alle dumme Hühner. Sie sind mehr an einer schnellen Nummer für hundert Francs Trinkgeld interessiert als daran, wirklich für mich zu arbeiten.«
»Ich möchte, dass sie was lernt. Ricardo, das hattest du versprochen.«
»In der Schule ist sie eine Null. Das weißt du ganz genau. Sie hat kein Interesse. Nicht wie du. Sie hat nur eins im Kopf: ausgehen, sich amüsieren. Eines Tages wird sie einen dieser faulen Nichtsnutze anschleppen, die auf dem Cours Julien herumstolzieren …«
»Sie ist meine Tochter, Ricardo.«
»Davon weiß sie nichts.«
»Ich hatte vor, es ihr zu sagen. Auch, wer ihr Vater ist. Ich hab über all das nachgedacht.«
»Gaby, hör auf … Was gaukelst du mir da vor? Liebe sie, kümmere dich um sie, darauf kommt es an. Der Rest … Du nimmst sie in die Lehre, Gaby, und ihr beide bringt den Laden wieder in Schwung … Das ist für sie genauso von Vorteil wie für dich, oder nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Du willst eine Zukunft für sie. Versorg sie mit möglichst viel Geld. Das ist heute das beste Diplom.«
»Ich muss mit ihr darüber reden. Herausfinden, wie sie darüber denkt.«
Ricardo musterte sie. Nach so vielen Jahren ging ihm wieder die Schönheit dieser Frau auf, ihre Intelligenz, ihr Scharfsinn. Er liebte sie. Aber so etwas sagt man nicht, man denkt es nicht einmal. Wenn er nicht gewesen wäre, was er war, ein Gangster, hätten sie vielleicht zusammen glücklich sein können.
»Sie ist einverstanden«, sagte er ganz beiläufig. »Sie wartet darauf, dass du sie abholst.«
»Mistkerl!«, schrie sie. »Mistkerl!«
Und sie brach in Tränen aus, sie, die seit Diamantis’ Fortgang nicht mehr geweint hatte.
Sie bemerkte Lalla und Nedim, die aus dem Wasser stiegen. Erschöpft ließen sie sich in den Sand fallen. Glücklich. Ja, man konnte sie sich als glückliches Paar vorstellen. Amina fühlte, wie ihr Herz vor Kummer überlief, und konnte die Tränen nicht unterdrücken.
Mit dem unvermuteten Auftauchen von Diamantis war das Kartenhaus ihres Lebens zusammengefallen. Sie musste sich jemandem anvertrauen, herauslassen, was sich in ihrem Innern angestaut hatte. Wem konnte sie sich anvertrauen, wenn nicht ihm? Sie glaubte nicht an den Zufall, aber das war ein Zeichen des Schicksals. Die Zeit war gekommen. Die Stunde der Wahrheit. Was nützt denn die Wahrheit, wenn sie denen, die gelitten haben, nicht ein wenig Glück schenken kann?
22 Das Mittelmeer, ein Meer, das uns zum Narren hält
Auf der Corniche fuhren die Autos Schritt, Stoßstange an Stoßstange. Das hatte Diamantis ganz vergessen – aber hatte er es je wirklich gekannt? –, diesen Ansturm der Marseiller an die Strände an Sommerabenden. Einige fuhren nur hin, um ein Gläschen auf einer Terrasse zu genießen, andere, um am Meer zu essen. Familienausflug, Liebesspaziergang, Beisammensein unter Freunden. Aus welchem Winkel der Stadt man auch kam, früher oder später traf man sich unweigerlich im Stau auf der Corniche, die an der Küste entlangführte, oder auf der Avenue du Prado, die im rechten Winkel zu den Stränden hinabstieß.
Einen Ellenbogen im Fenster, versuchte er sich die alte Küstenstraße vorzustellen, auf der nur eine Straßenbahn fuhr, wie Toinous Frau Rossana ihm erzählt hatte. Eine Erinnerung aus glücklicher Kindheit. Sie war nur einmal mit der Straßenbahn gefahren.
»Für meine Eltern war das ihre Hochzeitsreise, einmal mit der Straßenbahn über die Corniche. Das war nicht gerade Venedig, aber ebenso schön. Ich glaube, sie sind in ihrem ganzen Leben nicht mehr so weit gereist!«
Marseille konnte unzählige solcher Geschichten erzählen. Die Stadt war aus Erinnerungen und Anekdoten gestrickt, die einem Erbe gleich vom Vater auf den Sohn übergingen. Marseilles Geschichte lebte in den Menschen, nicht in Steinen.
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