Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
Vom Netzwerk:
Diamantis stellte sich vor, sich dort für immer niederzulassen. Mit Mariette eng an ihn geschmiegt, die ihrerseits ihre Kindheitserinnerungen vor ihm ausbreitete, bereichert durch jene von Toinou und Rossana.
    »Wir waren im Wassersportverein vom Douane-Kanal«, hatte Toinou ihm eines Mittags erzählt, den Mund voll gegrillter Rotbarbe. »Im Sommer fuhren wir mit mehreren Familien hinaus, jede in ihrem kleinen Boot, Richtung Martigues. Wer zuerst kam, hielt für die anderen den Platz frei. Wir haben gefischt, sind nach Muscheln und Seeigeln getaucht … Es fehlte uns an nichts …«
    Er könnte sein Boot auch hier haben, überlegte Diamantis. Mikis könnte kommen. Sie würden draußen hinter den Frioul-Inseln fischen gehen. Auf Tunfischfang. Das liebten sie beide. Auf Psará stießen sie oft bis zum äußersten, östlichen Teil der Insel vor, einen Ort, den sie »Barschhöhle« getauft hatten. Sie fischten mit der Langleine und benutzten kleine Heringe als Köder. Es gelang ihnen, Exemplare von dreizehn bis vierzehn Kilo hochzuziehen.
    »Fischen Sie?«, fragte er den Taxifahrer.
    »Hier ist nichts mehr«, antwortete er mürrisch. »Kein Fisch mehr, keine Fischer mehr. Nur noch Autos und Autonarren.« Damit drückte er wütend auf die Hupe, weil der Fiat vor ihm die Zwanzig-Zentimeter-Lücke, die sich vor ihm aufgetan hatte, nicht geschlossen hatte. Er streckte seinen Kopf aus dem Fenster: »He! Mach schon! Ich arbeite hier!«
    Diamantis konnte das Gesicht des Fiatfahrers nicht sehen. Er hörte nur die Erwiderung: »Und was macht deine Schwester?«
    »Arschloch!«, fluchte der Taxifahrer. Er drückte erneut ausgiebig auf die Hupe. Alle fingen an zu hupen. Zehn Minuten Dampf ablassen. Dann begann wieder jeder in seinem Wagen all jene zu beschimpfen, die wie sie selber nur schnell ans Meer wollten.
    Diamantis ließ seinen Blick über die Wasseroberfläche gleiten. Er versuchte alles, um nicht an sein Treffen mit Amina denken zu müssen. Einige Gedanken kamen ihm wieder in den Sinn, die er vor kurzem in seinem Bordbuch notiert hatte. In Bezug auf die Dürftigkeit der Bezeichnungen für das Meer. Nur die Griechen hatten viele Namen für das Meer: hals, das Salz, das Meer als Materie; pellagos, der Meeresspiegel, das Meer als Szenerie; pontos, das Meer als Raum oder Weg; thalassa, das Meer als Ereignis; kolpos, der Teil des Meeres, den das Ufer umarmt, eine Bucht oder ein Meerbusen …
    Was jetzt im Schnelllauf vor seinen Augen abspulte, war all dies gleichzeitig. Das Meer in all seinen Definitionen, das Mittelmeer in allen Facetten. Immer weiter, als das Auge reicht. Immer weiter in der Geschichte zurück. Immer wirklicher. Noch über die Mythen hinaus. Das Rumelische Meer, das byzantinisch-römische Meer: al-bahr al-rum. Der ägyptische Name fiel ihm wieder ein. Und er erinnerte sich, dass dieses Meer für die Araber weder blau noch schwarz, sondern weiß war: al-bahr al-abyad.
    Dieses Meer hält uns zum Narren, dachte er.
    »Sie sind da«, unterbrach der Taxifahrer.
     
    Nedim hatte Lalla von all seinen Reisen berichtet. Im Moment schilderte er ein Abenteuer draußen vor Singapur, wenn die Schiffe mit halber Kraft die schmale Stelle zwischen Raffles Lighthouse und Buffalo Rock passieren. Sie waren beide noch im Badekleid. Lalla hatte ebenfalls einen Gin Tonic genommen. Um Nedim Gesellschaft zu leisten.
    »Es ist, als würdest du eine Zahlstelle auf der Autobahn ansteuern, verstehst du, aber die Zahlstelle ist in den Händen von Piraten.«
    »Piraten?« Lalla brach in Gelächter aus. Piraten gab es doch heute nicht mehr.
    »Oh doch, oh doch. Verdammt, Lalla, es gibt sie überall, jede Menge. In Asien, Südamerika. Tausende.«
    Lalla lachte schallend. »Hör auf, Nedim, das ist zu viel!«
    Lallas Lachen war ansteckend. Aber er wollte ihr trotzdem von den Piraten erzählen. Wie sie in jener Nacht an Bord ihrer Langboote unter das Heck geglitten waren. Sie hatten Ziem, einen Seemann, der im Morgengrauen losgegangen war, um die Lichter zu löschen, nicht zurückkehren sehen. Er und Haïni, ein anderes Besatzungsmitglied, fanden ihn an den Großmast gefesselt.
    Die Seeräuber hatten das Schiff geentert.
    »Sie waren um die zwanzig. Verdammt, wir haben es mit der Angst zu tun gekriegt und … Verflucht, Lalla, hör auf zu lachen …«
    »Und haben sie dich auch gefesselt?«
    »Einer hat mir sein Beil an die Kehle gehalten … Ein Beil …« Er machte die Geste, und Lalla schüttelte sich vor Lachen. Die anderen Gäste sahen

Weitere Kostenlose Bücher