Aldebaran
vergaß.
Schmit fand sie erst neun Tage nach Diamantis’ Abreise. Amina war so glücklich wie noch nie. Kaum in Barcelona angekommen, hatte Diamantis ihr geschrieben. Eine Postkarte in sehr schlechtem Französisch. Er erzählte von den Ramblas, durch die er gegangen war, während er von ihr träumte. Er erzählte von Kanarienvögeln, Distelfinken, Papageien und einer ganzen bunten, rot-grün-blauen Vogelschar, deren Namen er nicht kannte, auch von Fischen, kleinen, großen und farbenprächtigen, die in riesigen Aquarien schwammen. Er erzählte über die Statue von Christoph Kolumbus im Hafen. Er sprach von Liebe. Von seiner Liebe zu ihr.
Diamantis hatte sie auch angerufen. Um ihre Stimme zu hören. Ihr ins Ohr zu hauchen, wie sehr er sie vermisste. Ihr seine Rückkehr anzukündigen. Sie hatten sich für eine Stunde nach der Ankunft des Schiffes verabredet. Um nicht eine einzige Sekunde ihres gemeinsamen Glücks zu verschenken.
Schmit erwischte sie in der Rue Pythéas nicht weit vom Hafen. Er war nicht allein. Sie hatte noch Zeit, ihren Vater einige Schritte hinter ihm wahrzunehmen. Das Erste, was sie spürte, war die Spitze seines Messers in ihrem Rücken. Dann Schmits Atem, anisgeschwängert. Sie stießen sie in die schmale Traverse de la Tour. Dort drückte er sie gegen die Wand und hielt ihr das Messer an die Kehle.
»Nun, du Schlampe, so sieht man sich wieder!« Er spielte mit dem Messer. Das liebte er. Sie spürte, wie die Klinge ihre Wange streifte. »Sagst du Bruno nicht guten Tag?«
Sie hatte keine Angst. Sie war ruhig, sehr ruhig. Sie dachte an Diamantis, der morgen kam. An das Glück, das er ihr geschenkt und das all ihr Leiden ausgelöscht hatte. Ihm hatte sie in einer Nacht alles gegeben. Körper und Seele. Ihr Herz. Was er ihr gegeben hatte, konnte ihr jetzt niemand mehr wegnehmen. Sie gehörte für immer Diamantis. Tot oder lebendig.
Und sie hieb Schmit mit Wucht ein Knie in die Eier. Er krümmte sich vor Schmerz. Eine Sekunde zu spät. Die Klinge schlitzte ihre Wange auf, direkt unter dem Auge. Sie glaubte an einen Kratzer und rannte davon. Wieder fliehen. Blind rannte sie über die Rue Saint-Saëns. Bremsen kreischten. Eine Motorhaube hob sie leicht in die Höhe. Sie spürte, wie sie fiel. Hörte, wie ihr Kopf auf den Asphalt knallte. Sah, wie sie ins Dunkel tauchte. Sterben.
Als sie die Augen wieder aufschlug, standen Menschen um sie herum. Männer, eine Frau. Man flüsterte. Sie lag in einem Bett. Ein Mann beugte sich zu ihr herab.
»Jetzt wird alles gut«, sagte er.
Sie tastete nach ihrer Wange. Ein dicker Verband lag darüber.
»Ich hab getan, was ich konnte«, fügte er hinzu und lächelte sie an.
Ein Mann kam heran. Gut aussehend, um die fünfzig. Mit Schick gekleidet. Jemand schob ihm einen Stuhl hin, und er setzte sich.
»Ich heiße Ricardo. Du bist in meinen Wagen gerannt. Dir fehlt nichts. Wegen dem Aufprall, meine ich. Ansonsten … Die Wunde ist tief …«
Amina schloss die Augen, schlug sie wieder auf, sah diesen Mann an und blickte sich dann um. Das Zimmer, in dem sie lag, die Menschen. Der vertrauliche Ton missfiel ihr, er klang wie eine weitere Drohung.
»Wo bin ich?«
»Bei einer Freundin. Gisèle, komm her!«, befahl er.
Der Klang seiner Stimme gefiel ihr auch nicht.
Gisèle kam heran. Eine kleine Frau, wie eine Barbiepuppe. Enges schwarzes Kleid und Stöckelschuhe. Überschminkt. Eine cagóle, wie man in Marseille sagte, ein Flittchen. Wieder sah sie Ricardo an, wusste aber nicht, was sie von ihm halten sollte.
»Du wirst ein paar Tage hier bleiben. Gisèle wird sich um dich kümmern. Nicht wahr, Gisèle?«
»Natürlich. Es wird Ihnen an nichts fehlen, Sie werden sehen.«
»Ich …« Ihr Mund war wie zugeklebt. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich hab Durst.« Das war es nicht, was sie sagen wollte, aber sie hatte wirklich Durst.
»Dominique!«, rief Ricardo erneut im Befehlston. »Bring ein Glas Wasser!«
Sie trank vorsichtig.
»Ich hab noch was zu erledigen«, brachte sie schließlich heraus. »Ich kann nicht hier bleiben.«
»Verzieh dich!«, sagte Ricardo zu Gisèle. Dann neigte er sich zu ihr. »Hör zu, Amina, erzähl mir keinen Bockmist. Wir haben vor einer viertel Stunde deinen Vater angerufen. Du bist von zu Hause abgehauen, hat er gesagt. Und dass du eine Nutte bist, die die Männer provoziert. Er hat mir von einem seiner Kumpel erzählt, Schmit, glaube ich, den du ganz verrückt gemacht hast …«
Sie hörte nicht mehr zu. Sie hatten ihre
Weitere Kostenlose Bücher