Aldebaran
Blätterteig, Taboulets, Gurken in Yogurt, Omelett mit Paprika und Tomaten, gefüllte Weinblätter, Tintenfische in Sauce nach thessalonischer Art, Moussaka. Und natürlich grüne und schwarze Oliven, Mandeln, Cashewkerne, geröstete Pistazien und Kichererbsencreme. Nicht zu vergessen mehrere Flaschen Wein. Weißen Cassis, Rosé aus Bandol und ein paar Flaschen italienischen Roten, Lacrima Christi, von dem Diamantis schwärmte.
An dieser Tafel fühlten sie sich zwar nicht wie zu Hause, aber wie eine Familie. Aus ein und demselben Land. Dem Mittelmeer. Sie vergaßen für einen Moment, wer sie waren, warum sie hier waren, auf diesem Schiff, in einer Sommernacht in Marseille, durch diesen Zufall, der Exilanten, obgleich ständig kreuz und quer in Bewegung, schließlich an einem Ort zusammenführt, an dem Glück und Unglück ineinander fließen. Hier war das Ende der Welt. Auf der Aldebaran.
Zu Beginn der Mahlzeit hatte Diamantis die Unterhaltung bestritten. Nedim hatte ihn auf den Geschmack gebracht.
»Stell dir vor«, hatte Nedim Lalla lachend erzählt, »ich bin Türke, und er ist Grieche. Wir können uns nicht ausstehen. Mich mit einem Griechen an einen Tisch setzen! Niemals. Unsere gefüllten Weinblätter sind übrigens besser!«
»Diese hier, mein Freund, ob dus glaubst oder nicht, sind libanesisch«, unterbrach Abdul. »Das schmeckt man.«
»Das stimmt sogar«, witzelte Diamantis.
Diamantis hatte von dem gesprochen, was ihm am meisten am Herzen lag. Das Mittelmeer. Dieses Meer war Orient und Okzident. Und es war eins. Einmalig.
»Einmalig, versteht ihr? Orient, Okzident … das ist alles Humbug. Unser Land, unsere Wurzeln, unsere Kultur, all das ist dort, auf diesem Meer, in ihm drin. Versteht ihr mich?« Er schaute der Reihe nach Nedim, Lalla und Abdul an.
Sie nickten, aber Diamantis sah ihnen an, dass ihnen das alles unverständlich blieb. Ihm übrigens auch. Es war eine Empfindung, aber er konnte sie nicht recht in Worte fassen. Es war auch das erste Mal, dass er es überhaupt versuchte. Bislang hatte er diese Dinge für sich behalten. Sie geisterten durch seinen Kopf. Manchmal versuchte er, einen dieser Gedanken im Flug zu erhaschen und mehr schlecht als recht in einem seiner Hefte festzuhalten.
Er nahm einen tiefen Schluck Weißwein. Um seine Gedanken zu klären. Dafür war Wein unschlagbar. Das Aroma breitete sich in seinem Geist aus und verlieh den abstrakten Worten Form. Um ehrlich zu sein, er war in einem euphorischen Stadium nahe der Volltrunkenheit. Aber da war er nicht der Einzige.
Auch Abdul schwamm merklich in den Nebeln des Alkohols. Wenn sein Glas leer war, füllte er es wieder, ohne den anderen nachzuschenken. Er trank mit Hingabe. Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der er ein Schiff führte. Kalt und starr in Kopf und Körper. Er hielt sich gerade auf seinem Stuhl und konzentrierte sich darauf, jede seiner Gesten unter Kontrolle zu halten. Er hatte etwas von einem Automaten.
Nedim hatte auch nicht schlecht gebechert, aber weniger als Diamantis und deutlich weniger als Abdul. Er hatte sofort begriffen, dass Abdul schon besoffen war, als er zu ihnen in die Messe kam. Man sah es an der Uniform! Lallas Gegenwart hielt Nedim davon ab, die Grenze zu überschreiten, sich Diamantis und Abdul in ihrer Trunkenheit anzuschließen. Er wollte am Ende der Nacht nicht sturzbetrunken sein. Er hatte sich oft genug einen angetrunken. An vielerlei Orten. Und es endete immer gleich. Entweder in einer Schlägerei. Oder im Bett mit einer Nutte. Ohne Erinnerung daran, mit wem oder warum er sich geschlagen hatte. Ohne Erinnerung daran, wie das Mädchen war oder wie viel sie ihm abgenommen hatte. Wenn er früher oder später zu sich kam, stand er an eine Wand gelehnt und kotzte sich die Eingeweide aus dem Leib. Und dieses Schauspiel wollte er Lalla nicht bieten.
Seine Hand rutschte unter den Tisch und berührte zaghaft Lallas Bein. Sie legte ihre Hand auf seine. Ihre Finger verhakten sich. Sie drehte sich zu ihm, lächelte ihn an, dann zog sie ihre Hand von der seinen zurück und er die seine von ihrem Bein.
Von den vieren war Lalla zweifellos die Nüchternste. Sie verstand nicht recht, was vorging, seit Amina sie auf die Suche nach Diamantis geschickt hatte. Aber sie versuchte auch gar nicht erst, es zu verstehen. Sie ließ sich von den Ereignissen treiben. Diamantis und Abdul faszinierten sie. Zugegeben, sie soffen sich langsam einen an, aber sie waren ganz anders als die Männer, die sie bisher kennen
Weitere Kostenlose Bücher