Aldebaran
die Vorschrift. Vor allem war es gegen Abduls Prinzipien. Dabei kannte er ihn doch! Mist auch!
»Eine kleine Feier, sagst du?« Er legte Diamantis eine Hand auf die Schulter. Mehr zur Stütze als aus Zuneigung.
»Eine kleine Feier. Warum auch nicht? Ein festgemachtes, bewegungsloses Schiff ist dermaßen trist. Warum also nicht, nur eine kleine Feier …«
»Danach geht sie wieder«, betonte Diamantis.
»Ja, natürlich.« Er hielt Diamantis noch immer bei der Schulter und neigte sich zu ihm. »Ich habe sie gesehen«, murmelte er. »Die Kakerlaken.« Und er lachte laut los.
Abduls alkoholgetränkter Atem schlug Diamantis entgegen. Verdammter Mist, dachte Diamantis. Er ist wirklich voll. Es war das erste Mal, dass er ihn so sah. Das tat ihm weh. Ihre Freundschaft, das spürte er, würde mit diesem Rausch zu Bruch gehen. Aber nicht nur ihre Freundschaft. Alles. Alles ging auf der Aldebaran zu Ende. Das musste er ihm sagen.
»Abdul, ich werde dir sagen, warum ich verschwinde.«
Abdul lachte immer noch, weiterhin an Diamantis’ Schulter festgeklammert. »Ich weiß, ich weiß. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich bleibe. Wir haben alles verloren, das schon lange nichts mehr wert war!« Er lachte und lachte.
»Das ist die Wahrheit, mein Freund.«
Dann wurde er ernst und sah Diamantis an. »Siehst du«, sagte er und zeigte aufs Meer. »Wir sind unser ganzes Leben zur See gefahren, und? Wir haben nichts gefunden. Weder auf dieser Seite des Horizonts. Noch auf der anderen. Nichts. Keine Antwort. Keine Lösung?«
»Es gibt nichts zu finden, das ist die Wahrheit, Abdul. Nichts zu suchen. Nichts zu finden. Und nichts zu beweisen.«
Diamantis wollte jetzt auch trinken. Er wollte trinken. Ja, trinken und feiern. Mit einer Frau schlafen. Er dachte wieder an Mariettes rundes Gesicht. An ihr Lächeln. An ihren wohlgerundeten Körper. An den Frieden, der über ihrer Wohnung lag. Dieses sanfte Leben … Das Leben. Vielleicht das wahre Leben.
»Das sind alles Hirngespinste, Abdul. Spinnereien. Was soll das heißen – eine Lösung? Na? Es gibt für nichts eine Lösung. Niemals.«
»Genau. Darauf stoßen wir an, komm.« Er ließ Diamantis’ Schulter los. Es ging jetzt besser. Das spürte er. Er sah ihn erneut an, nicht ohne Mitleid diesmal. Ein Mann, der Angst vor Kakerlaken hat, dachte er.
»Wie heißt das Mädchen?«
»Lalla.«
»Lalla. Arabisch, nicht?«
»Marokkanisch.«
Abdul ließ Diamantis stehen und ging in seine Kabine. Eine Feier also? Er würde es ihnen zeigen. Er holte seine Sommeruniform hervor und begann sich anzuziehen. In seinem Geiste sah Lalla Hélène immer ähnlicher. Nur er konnte beurteilen, ob sie ihr wirklich glich. Aber er sagte es nicht. Er wusste nur, als er ihr die Hand schüttelte, dass sie denselben Blick hatte.
24 Jeder trägt ein Stück Unglück in sich
»Wenn …« Abdul räusperte sich und las weiter vor: »Wenn Sie die Hand auf die Reling legen …«
»Was ist das, die Reling?«, fragte Lalla.
»Das Schanzkleid eines Schiffes«, antwortete Diamantis.
Sie sah Nedim an.
»Wie ein Geländer, wenn du willst. Damit du nicht über Bord fällst.«
»Ach so.«
»Kann ich weitermachen?«, fragte Abdul. »Gut. Wenn Sie die Hand auf die Reling legen und so etwas wie einen lebenden Kontakt empfinden, der auf ihre leichte Berührung reagiert, wenn Sie das wirklich fühlen, dann haben Sie die besten Voraussetzungen, um ein echter Seemann zu werden.« Er schaute vom Buch auf, sah Lalla an und fuhr fort: »Wenn Sie das Talent dazu haben, ein gesundes Urteilsvermögen, einen Blick für Distanzen, ein eher ruhiges, ausgeglichenes Naturell …«
Er klappte das Buch zu. Das Handbuch für Marineoffiziere von Kapitän H. A. v. Pflugk. Ein Werk, von dem er sich nie trennte. Er hatte es vor gut fünfzehn Jahren bei einem Londoner Buchhändler ausgegraben. Gewiss, solche Ausführungen wirkten veraltet, aber sie gefielen ihm. Sie waren richtig.
»Genau das war es«, sagte er. »Ich habe das empfunden, als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Schiff betreten habe. Die Espérance. Du kennst die Geschichte schon, nicht wahr, Diamantis?«
Sie hatten all ihre Einkäufe auf dem Tisch ausgebreitet. Aus verschiedenen Feinkost- und Lebensmittelgeschäften in der Rue d’Aubagne, der kosmopolitischsten Straße von Marseille. Kabeljaubällchen, Salat aus rotem Paprika, Fleischklopse, Krapfen mit Lammhirn, Chakchouka, Brik-Teigtaschen mit Fisch, Bohnensalat, gehackte Auberginen in Olivenöl, Käse in
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